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Andreas Sternowski

Tempolimit und die direkte Demokratie

Aktualisiert: vor 3 Tagen


Der Versuch, ein generelles Tempolimit auf den deutschen Autobahnen einzuführen, verdeutlicht unser Dilemma: Wir wollen das Klima retten, aber nur so lange, wie wir auf nichts verzichten müssen. Die Regierenden, auch wenn sie grün sind, trauen sich nicht, die Bevölkerung zu solchem Verzicht zu zwingen. Der Ausweg wäre einfach: die Bürger entscheiden zu lassen. Vor diesem Ausweg haben die Regierenden allerdings noch mehr Angst.


Autos auf der Autobahn ohne Tempolimit



Die Wende kann nur mit mehr direkter Demokratie gelingen


Verzicht kann man nicht verordnen. Zum Verzicht kann sich der Mensch nur selbst entscheiden. Wenn er beispielsweise verstanden hat, dass Übergewicht seine Gesundheit ruiniert, kann er sich entschließen, seine Diät zu ändern. Wenn er sich zu Herzen genommen hat, dass das Rauchen seine Lunge zerstört, kann er den Schmerz der Entwöhnung auf sich nehmen. Wenn man aber versucht, über sein Essen oder seine sonstigen Gewohnheiten von außen zu bestimmen, erzeugt man lediglich eine Trotzreaktion.


Es gibt keine vernünftigen Argumente dafür, mit 180 oder 200 km/h Auto zu fahren. Das Einzige, was gegen ein Tempolimit spricht, ist der Trotz des Fahrers, der nicht mehr Zeit für seine Fahrt einplanen möchte und auf den Adrenalinstoß aus der schnellen Fahrt nicht verzichten will. Ihm zu sagen, dass er es muss, ist, als wenn man ihm seinen Schweinebraten oder seine Morgenzigarette wegnehmen wollte – er wird dagegen sein.


Wenn er sich aber selbst dafür entscheidet, wird er nicht rebellieren und es vielleicht sogar schaffen, seine unvernünftigen Gewohnheiten aufzugeben. Das ist der Grund, warum man unpopuläre Entscheidungen (vorausgesetzt, sie sind notwendig und vernünftig) den Menschen überlassen sollte, in diesem Fall allen Bürgern.


Natürlich kann die Regierung unerwünschtes Verhalten teuer machen. Das muss sie auch zum Teil sicherlich. Allerdings wird uns diese Methode bei der Wende nicht helfen. Die Menschen werden bei der nächsten Bundestagswahl irgendjemanden wählen, der ihnen Entlastungen verspricht. Die Bürger müssen ihr Verhalten ändern wollen. Und das geht nur, wenn sie Verantwortung für das Klima, für die Natur, für das Leben auf dem Planeten übernehmen.


Der Mensch ist ein soziales Wesen – die Verantwortung ist ihm angeboren. Allerdings wird er durch das System aus Geld und indirekter Demokratie zum Gegenteil erzogen.

Dazu kommt noch der Fakt, dass die meisten Milliarden und Billionen nicht anhand von Einzelentscheidungen der Regierenden oder Konzerne bewegt werden, sondern von den Regeln, die in dem System gelten. Die wirkliche Macht hinter den Kulissen geht bereits seit der Zeit der Industriellen Revolution von den Regeln aus, die der Kumulierung von Geld und Macht dienen. Die Gestaltung dieser Regeln findet unbemerkt von den Wählern und sogar von vielen der entscheidenden Akteure statt. Wenn sie verändert werden, versteht kaum jemand die Tragweite dieser Veränderung, auch die meisten Politiker und „Fachleute“ nicht. Erst im Nachhinein sieht man (wenn man sich die Mühe macht, die Zahlen und Fakten zu analysieren), wer von den Änderungen profitiert hat, nämlich diejenigen, die über die Regeln des Systems bestimmen.


Wir stellen uns gerne vor, dass wir autonom über unser Leben bestimmen, und wenn wir Politiker oder Manager sind, selbstständig entscheiden. In Wirklichkeit tanzen wir nur fröhlich zum Rhythmus, den andere vorgegeben haben.

Von der Schweiz lernen


Die Regierenden trauen der Vernunft der Bürger nicht. Dafür gibt es gute Gründe; allerdings noch bessere dagegen. Welche sind es?


Menschen (fast alle) verfolgen bei ihren Entscheidungen eigenen Vorteil und begreifen ihn außerdem meistens kurzfristig. Das stimmt. Aber wenn die Regierenden sie deswegen nicht direkt über das Gemeinwohl abstimmen lassen, wachsen uns Bürger heran, die das Gefühl haben, dass an ihnen vorbeiregiert wird und dass sie für das Wohlergehen der Gemeinschaft nicht verantwortlich sind. Unser politisches System erzeugt damit egoistische, unverantwortliche Bürger, vor denen es anschließend Angst hat.


Zu Demokratie müssen Völker heranwachsen. Zur direkten Demokratie müssen außerdem Kinder in den Schulen erzogen werden. Es ist höchste Zeit, endlich damit anzufangen.

Im Übrigen machen sich die Regierenden selbst was vor, weil sie in der politischen Praxis sowieso keine unpopulären Entscheidungen treffen, die sie die Wählerstimmen kosten könnten.


In der Schweiz kann man sehen, dass mehr direkte Demokratie funktionieren kann, dass sie sogar besser für das Gemeinwohl sorgt, als die deutschen Regierungen es getan haben. Zu dieser Verantwortung sind die Schweizer allerdings über die Zeit gewachsen. Deswegen birgt ein Umstieg auf das Instrument der Volksabstimmung bei uns einige Gefahren mit sich. Das stimmt. Auf der anderen Seite werden diese von Jahr zu Jahr nur größer. Die Dynamiken, die in der deutschen Gesellschaft wirken, sind nämlich in dieser Beziehung negativ. Ich möchte nur einige von ihnen aufzählen:


- Der wachsende Einfluss, der auf die Gesellschaft über die sozialen Medien ausgeübt wird.

Dieser Einfluss wird von Menschen sowie von finanziellen und politischen Kräften genutzt, die nicht das Gemeinwohl im Sinne haben. Sie streben entweder nach Geld oder nach Macht und sind an weniger und nicht an mehr Demokratie interessiert.


- Das zunehmende Gefühl, dass über die Köpfe der Bürger regiert wird.

Dadurch bleibt den Menschen der passive Blickwinkel des Kritikers übrig. Daraus resultiert die Politikverdrossenheit, die unsere Demokratie gefährdet.


- Ein immer geringerer Anteil der Bevölkerung ist innerhalb der deutschen Demokratie aufgewachsen.

Die meisten Menschen, die aus dem Ausland zu uns kommen, kennen weder die Demokratie noch teilen sie unsere Vorstellung von der Gesellschaft und davon, was normal und was unerwünscht ist. Damit würden sie nicht zwangsläufig unvernünftig und egoistisch entscheiden, aber dieser Fakt erhöht auf jeden Fall die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Verhalten weniger den Vorstellungen der politischen (übrigens auch der gesellschaftlichen und der kulturellen) Eliten entspricht.


Wenn wir weiterhin die direkte Demokratie auf Bundesebene scheuen, wird unser demokratisches System auseinanderbrechen.

Darauf zu warten, dass die Bürger irgendwann dazu heranwachsen, reifere Entscheidungen zu treffen, also das Verschieben der Volksabstimmungen und anderer Mechanismen der aktiven Demokratie, ist deswegen keine Lösung. Eine Abstimmung über das generelle Tempolimit auf den Autobahnen wäre die beste Gelegenheit, in Deutschland mehr direkte Demokratie einzuführen. Ich wette, würde man der Bevölkerung ruhig die Auswirkungen auf das Klima und die Umwelt, auf unsere Abhängigkeit von Ländern, die Menschen unterdrücken und Kriege führen, auf die Konzentration des Reichtums usw. erläutern, würde sich die Mehrheit für ein Tempolimit aussprechen.


Andreas Sternowski ist Verleger im Continentia Verlag, wo er Bücher über den Wandel zur Nachhaltigkeit und Verantwortung publiziert. Seine Vision ist eine Gesellschaft, die auf gerechtem und bereicherndem Miteinander und auf Harmonie mit der Natur beruht.


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1 Kommentar

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1 Comment


Anna
Jun 15, 2022

In einer anderen Sache, aber zum gleichen Thema:

Mehr Demokratie e.V. sammelt gerade Unterschriften unter einem Eil-Appell an die Bundesregierung, in dem er einen EU-Reformkonvent, der die Bürgerinnen und Bürger ins Zentrum stellt, fordert. Vielleicht möchtet Ihr Euch beteiligen: https://www.mehr-demokratie.de/aktionen/eu-reform-nicht-ohne-uns.


Wir brauchen nicht nur mehr direkte Demokratie, um die Wende zu schaffen. Wir brauchen sie auch in der EU. EU ist ein künstliches Gebilde und die direkte Demokratie, die Beteiligung der Menschen an der Umgestaltung der Union, an ihren Entscheidungen ist die einzige Chance, dieses Gebilde auf ein belastbares Fundament zu stellen.

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