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Wird es einen Krieg geben?

Aktualisiert: 12. Aug.


Warum wachsen die internationalen Spannungen? Warum werden von den westlichen Ländern Kriege angefangen? Wir haben uns mit diesen Fragen an den Systemdenker Alan Patrick Stern gewandt.


kranker Wald
Wald in Deutschland als Metapher der gegenwärtigen Kultur

Continentia: Menschen fragen sich zunehmend verwundert: „Was passiert da gerade in Deutschland?“ Die Spannung zwischen der Bundesrepublik und Russland wächst kontinuierlich. Die Kluft zwischen den NATO-Ländern und dem Rest der Welt vertieft sich, und es ist offenkundig, dass es die NATO ist, die diese Vertiefung verursacht. In Deutschland sprechen alle über Krieg und kaum jemand über Frieden. Können Sie sich diese Eskalationsspirale erklären?


Stern: Bevor ich Ihre Frage beantworte, muss ich anmerken, dass ich zu dem tagesaktuellen Geschehen nicht viel sagen kann – ich habe bereits vor weit mehr als zehn Jahren aufgehört, es zu verfolgen. Warum? Weil ich verstanden habe, dass die Tagesnachrichten meine Fähigkeit, die hinter dem Geschehen liegenden Dynamiken zu erkennen, mindern. Und für meine Arbeit an dem Buch „Redesigning Civilization“ war ein unvoreingenommener Blick auf die gegenwärtige Welt, auf den Zustand der Zivilisation und Kultur nötig. In der Zwischenzeit lernte ich diese mediale Stille zu schätzen.

Was ich Ihnen anbieten kann, ist die Sicht eines Systemdenkers, der hinter dem Rauschen des politischen Theaters und der Medien nach den eigentlichen Prozessen in der Gesellschaft sucht.


Continentia: Umso besser!


Stern: Wenn man ein komplexes soziales System verstehen möchte, muss man zuerst seine grundsätzlichen Dynamiken erkennen. Aber das Allererste ist, sich gewahr zu werden, welches Ziel es verfolgt. Was ist das Ziel unserer Zivilisation? Wir streben nach Wohlstand. Wir produzieren: Gegenstände und Geräte, Annehmlichkeiten und Spaß, und vor allem Geld. Dieses Ziel leitet sich ab aus der Vorstellung, dass das Leben des Menschen möglichst bequem und unterhaltsam sein soll. Weil wir im Westen in einer Welt leben, die lediglich aus Materie besteht, ist alles, was unsere Zivilisation anstrebt, materiell.

Für diese wachsende Produktion der Güter und für die Vereinfachungen des Lebens entwickelte sich im Westen das kapitalistische Wirtschaftssystem. Das produziert in Überfluss Sachen und Dienstleistungen, Zerstört die Biosphäre und transferiert dabei immer mehr Geld und Macht auf einige Wenige. Am Anfang war für diese Produktion noch eine starke Kultur notwendig, weil sie zum wachsenden Verständnis der Naturgesetze beitrug. Ich bin noch in einer Welt aufgewachsen, die die Kultur hochhielt – in einem Ethos der Humanität, der Moral, des Strebens nach Erkenntnis.

Heute ist hingegen differenziertes, an Werte und humanistische Ideale gerichtetes Nachdenken in der Breite der Gesellschaft für die Wirtschaft nur noch störend. Für diejenigen, bei denen der Reichtum und die damit verbundene Macht angehäuft werden, sind mündige Bürger und Demokratie mittlerweile ein Hindernis. Für das stark konzentrierte Geld ist eine stark konzentrierte Macht einfach attraktiver. Der ideale Bürger dieses Systems ist ein Konsument, der sich in die politischen Entscheidungen nicht einmischt. Deswegen werden anspruchsvolle Kultur und humanistische Bildung von den Machteliten vernachlässigt, aktive, kritische Gesellschaft sogar zunehmend unterdrückt. Das kulturelle Umfeld, in dem Menschen gegenwärtig aufwachsen, ist also ein gänzlich anderes.


Continentia: Seichter?


Stern: Wissen Sie, ich lebe auf dem Land, gehe oft im Wald spazieren. Die Wälder sind heute eine Karikatur der Wälder meiner Kindheit: kranke Bäume, kahle Flächen mit wuchernden Kräutern und Sträuchern, die dort nicht hingehören und wo Tiere kaum leben können. Sie bieten ein sehr trauriges Bild. So stellt sich mir heute unsere Kultur dar, und die Einfalt gesellschaftlicher Kommunikation in den Medien ist das Ergebnis.


Continentia: Wir wollten eigentlich über Krieg und Frieden sprechen …


Stern: Dafür müssen wir aber verstehen, wie sich unsere Zivilisation und Kultur entwickelt haben. Die Zivilisation (auf die Wirtschaft reduziert) zerstört nämlich nicht nur den lebenden Planeten, sondern auch die Gesellschaft. Diese Reduktion ist der Grund, warum die Kultur und das Miteinander in der Gesellschaft dem Kommerz unterworfen sind.

Ihre Frage kann man auch umformulieren: Sie fragen mich eigentlich, warum der Frieden, warum die hohen humanistischen Ideale nicht das Ziel der Regierung und nicht die Basis der medialen Kommunikation sind, korrekt?


Continentia: Ja, das hatte ich tatsächlich im Hinterkopf.


Stern: Die deutschen Politiker denken so eindimensional und verharren zugleich stur auf ihrem Kurs, weil sie gelernt haben, ihre Segel im Wind der politischen Winde zu halten. Diese wehen seit mehreren Jahrzehnten vor allem über den Atlantik aus den USA, und die Politiker haben gelernt, dass es am sichersten ist, diese Windrichtung zu übernehmen.


Continentia: Gab es früher keine politischen Windrichtungen, die die Regierungen beeinflusst haben?


Stern: Ja, aber damals hat das ökonomische System, das System der Geld- und Machtanhäufung, noch nicht die absolute, zwingende Kraft. Es ließ den Politikern noch etwas Gestaltungsraum. Die Gesellschaft war in ihrem ideellen Bezugsrahmen noch nicht durch die mediale Omnipräsenz gefangen genommen und hatte genug Eigendynamik. Heute gestalten die Regierungen nicht mehr. Sie folgen. Und deswegen bieten sie nur noch politisches Theater. Auf einer Bühne muss ja ein Drama geboten werden. Und wenn sich außerdem die Zuschauer nur sporadisch im Theatersaal aufhalten, muss das Stück simpel und die Botschaft leicht durchschaubar bleiben. Das alleine würde bereits die Einfältigkeit der gegenwärtigen Politik erklären.


Continentia: Und deswegen sind die einzelnen Parteien intern derart gleichgeschaltet …


Stern: Ja. Wenn eine politische Partei einmal Konformismus internalisiert hat, erzeugt das eine Dynamik, die die unabhängig, differenziert, anspruchsvoll denkenden Menschen vom Aufstieg innerhalb der innerparteilichen Machtstruktur ausschließt. Menschen an der Spitze der etablierten Parteien in Deutschland, Frankreich oder Großbritannien sind diejenigen, die die herrschenden Meinungen und Narrative am tiefsten verinnerlicht haben. Das erklärt zusätzlich die Eindimensionalität der Ideen und die Ideologisierung in der EU.


Continentia: Wo aber kommen diese Ideologien und Narrative her?


Stern: Von dort, wo die Macht wirklich liegt. Wie gesagt, ist unser zivilisatorisches Ziel das wirtschaftliche Wachstum. Der Motor dieses Wachstums in der kapitalistischen Wirtschaft ist die Vermehrung des investierten Geldes, das die Reichen in das Spiel aus Finanzmarkt und Wirtschaft anlegen. Die westlichen Regierungen betrachten deshalb als ihre wichtigste Aufgabe, diese Grunddynamik der Wirtschaft zu stärken. Das half den Reichen, ihren Einfluss auf den kapitalistischen Staat über die letzten hundert Jahre zu perfektionieren.

Wenn man die lästigen, aber notwendigen sonstigen Aufgaben des Staates – die Unterhaltung der Infrastruktur, die Bildung und die Sicherheit, den Sozialstaat usw. – beiseitelegt, ist das primäre Anliegen der Regierung die Erhaltung des Kapitals innerhalb der deutschen Wirtschaft. Und wie wir wissen, rotiert dieses Kapital vor allem um die Wall Street. Und damit kommen wir zurück zu den USA. Sie bestimmen de facto nicht nur die deutsche Außenpolitik, sondern auch die wichtigsten, weil systemischen, innenpolitischen Entscheidungen an der Spree.

Nun könnte man fragen, warum wir mehrheitlich dieses System, das der Vermehrung des Reichtums einiger Weniger dient, unterstützen. Es wird zunehmend offenkundig und erfahrbar, dass uns dieses System nicht mehr gut dient. Also warum? Weil wir glauben, dass es uns persönlich mehr Wohlstand, mehr Gegenstände und Geräte, Annehmlichkeiten und Spaß, gibt. Das Ziel der westlichen Zivilisation ist auch unser Ziel, und man hat uns eingeredet, dass das kapitalistische System den Menschen am besten Wohlstand liefern kann. In einem komplexen sozialen System greift alles ineinander: die Glaubensätze, die Ziele, die Entscheidungsstrukturen, die Regeln des Rechts und vieles mehr. Deswegen ist die systemische Betrachtung so wichtig, wenn wir verstehen wollen, warum etwas in der Gesellschaft passiert und warum bestimmte Entscheidungen so und nicht anders getroffen werden.


Continentia: Was wollen die USA?


Stern: Ihre politische und ökonomische Dominanz erhalten. Russland und China sind Länder, die eine Unterordnung unter die US-amerikanischen Interessen – eine politische Unterwerfung, aber auch eine ökonomische Subordination – nie akzeptiert haben. Aus gutem Grund, weil sie wissen, dass die Subordination im Interesse der USA und des Westens (der kapitalreichen Eliten dort) ist, aber nie im Interesse der untergeordneten Länder. Deswegen werden sie im Weißen Haus und auf dem Kapitol als Feinde angesehen. Diese Sicht wird in Europa und in Deutschland übernommen. Und wenn die USA (der Präsident, aber vor allem der sog. Deep State als das eigentliche, überdauernde Machtzentrum der Vereinigten Staaten) einen Krieg gegen Russland, China oder ein anderes Land wollen, machen die westlichen Länder einfach mit.


Continentia: Sind Russland und China keine Bedrohung für Deutschland?


Stern: Nur wenn wir sie bedrohen. Wir könnten aber genauso gut mit ihnen wirtschaftlich und politisch zusammenarbeiten. Internationaler Frieden kann nur durch gegenseitige Berücksichtigung der vitalen Interessen, vor allem der Sicherheit, aller Akteure entstehen. Dieses Denken ist jedoch den Machtzentren der USA fremd.


Continentia: Ist es nicht auch im Interesse der deutschen Bevölkerung, wenn Russland oder China schwach sind? Ist die Politik der USA nicht in unserem Interesse?


Stern: Die Frage danach, wem bestimmte Entscheidungen dienen, ist genau die richtige. Also versuchen wir sie zu beantworten.

Es hat sich bewährt, bei der Analyse komplexer sozialer Systeme einige einfache Gedankenübungen zu benutzen. Ich nenne sie Tests. Einer von ihnen heißt Wem-nutzt-das-Test. Man spielt dabei die Folgen einer Entscheidung, einer Handlung oder eines Verhaltens gedanklich bis zum Endresultat durch. Anschließend betrachtet man das Resultat und fragt sich, wem es am meisten nutzt. Je größer der Kreis derjenigen, die dadurch besser leben können oder bessere Menschen werden, je besser dadurch die Gemeinschaft dasteht, umso richtiger die Entscheidung oder das Verhalten. Außerdem findet man dadurch heraus, in wessen Interesse die Entscheidung getroffen wurde. Falls der Kreis der Nutznießer klein ist, stehen diese Leute sicher in irgendeiner Form hinter dieser Entscheidung.

Wem nutzt es, wenn Deutschland und die NATO einen Krieg mit Russland provozieren? Zuerst gibt es die Option, dass es doch nicht zum Krieg kommt und die Politiker ihre Ziele durch die Sanktionen und die Eskalation der Rhetorik erreichen: die Schwächung oder der Zerfall des russischen Staates, Machtübernahme dort durch eine andere Regierung, die sich den Interessen des Westens unterordnet. Ich halte es zwar für sehr unwahrscheinlich, aber man kann es als eine Option sehen. Das würde die internationale Machtposition der USA stärken und dem Spekulationskapital in New York und Europa ein zusätzliches Spielfeld eröffnen. Würde es Sie und mich reicher machen? Nun, die ökonomische Entwicklung in allen westlichen Ländern bringt den Bevölkerungen seit vielen Jahren schon nicht mehr, sondern weniger Wohlstand, und der Sozialstaat wird immer schwächer. Das ist keine Laune der Konjunktur, sondern folgt der Weiterentwicklung des kapitalistischen Systems westlicher Prägung. Ich sehe keinen Grund, warum sich diese Dynamik mit der Kapitulation eines zusätzlichen Staates ändern sollte. Im Gegenteil, dies würde dieser Dynamik nur einen zusätzlichen Antrieb verleihen. Dieselbe Überlegung gilt auch für die Volksrepublik China.

Und was, wenn es einen offenen Krieg mit Russland oder China gibt? Das Ziel (und beim militärischen Sieg das Resultat) bleibt das gleiche. Nur die Aktienbesitzer und die Vorstände der Waffenindustrie machen ein zusätzliches Geschäft, und ein paar Millionen Europäer, Taiwaner, US-Amerikaner, vielleicht auch Japaner, Südkoreaner oder Australier verlieren ihr Leben. Und natürlich auch Russen und Chinesen.

Wenn Sie wissen, wer bei dieser Politik reicher wird und an Macht gewinnt, wissen Sie auch, wer und warum dahintersteht.


Continentia: Sie haben in Ihrem Buch auch andere solche Tests angewandt. Könnten Sie Ihre Analyse erweitern?


Stern: Nehmen wir den Überall-Test. Dabei vervielfacht man gedanklich das betrachtete Verhalten ins Unendliche. Wie würde es allen Menschen gehen, wenn alle so handelten? China, Russland, Indien, Iran, Brasilien, alle Regierungen würden versuchen, einen Regierungswechsel in anderen Ländern herbeizuführen. Alle in der Welt würden allen mit Krieg drohen. Das Ergebnis liegt auf der Hand: Das würde zu viel mehr Kriegen mit sehr vielen toten und verletzten Menschen mit sehr viel Leid führen. Es würde Hass zwischen den Nationen aufblasen. Hass ist auch ohne Krieg zerstörerisch. Außerdem würde das die Weltwirtschaft lähmen und das Gespräch der Kulturen behindern. Es fällt mir kein einziges positives Resultat aus dem Überall-Test ein. Damit ist es klar, dass wir derartiges Verhalten ablehnen müssen.

Nehmen wir noch einen anderen Test, z. B. den Früchte-Test. Was bewirkt solches Handeln? Außer dem Leid, dem Tod und der Zerstörung könnte es unter Umständen die Aktionäre der Unternehmen, die bei Kriegen verdienen, reicher machen. Weil die Superreichen bei Krisen tendenziell entweder dazuverdienen oder weniger verlieren als der Durchschnitt der Menschen, werden sie auch nach dem Krieg diejenigen sein, die Kapital besitzen, und beim Wiederaufbau weiterhin reicher werden. Wenn man also ein Milliardär ist, kommt man vielleicht beim Früchte-Test zu einem positiven Ergebnis. Der Rest von uns will sicher diese Früchte nicht essen müssen.


Continentia: Wird es zu einem Krieg mit Russland kommen?


Stern: Wenn die Ukrainer nicht mehr werden kämpfen können oder wollen, wird dieser Krieg aufhören und die Eskalation zwischen der EU und Russland zuerst wahrscheinlich nicht weiter wachsen. Das Aufhören des Tötens ist immer gut, und wir können nur hoffen, dass dies so bald wie möglich eintritt. Aber die von mir beschriebene Dynamik bleibt, und die USA werden ihre Kriegsziele vermutlich woandershin verlegen. Aus alldem, was wir über die Kräfte im System gesagt haben, würde es schon eines Wunders bedürfen, um diese Dynamik zu durchbrechen.


Continentia: Was tun?


Stern: Beten …


C: ?


Stern: Wäre ich jünger, würde ich schon aktiv werden. Auch Wunder fallen nicht vom Himmel. Sie brauchen Menschen.


Continentia: Verstehe. Herr Stern, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.



Alan P. Stern ist ein Systemdenker und praktischer Philosoph. Akademisch in naturwissenschaftlichen wie auch in praktisch-wirtschaftlichen Fächern ausgebildet, arbeitete er als Manager und Unternehmensberater.

Im Jahr 2019 erschien sein Buch „Redesigning Civilization; wie erschaffen wir die westliche Zivilisation neu?“


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