Wachsende Ungleichheit und die Demontage der Gesellschaft
- Alan P. Stern
- 27. Apr.
- 14 Min. Lesezeit
Seit einigen Jahren spüre ich zunehmend, dass sich in Deutschland etwas grundsätzlich ändert. Ich vergleiche das heutige Deutschland mit meiner Erinnerung an die 90er-Jahre, und es tut weh.

Mein geliebtes Deutschland
Noch vor 30, 40 Jahren war Deutschland ein Land, in dem man sich sicher und frei fühlte, hoffnungsvoll nach vorne sah, ein Land, in dem Menschen offen und gelassen waren und den anderen respektvoll begegneten, ein Land mit sprudelnder Kultur und ehrlich gemeinter Hilfsbereitschaft, mein geliebtes Deutschland. Jetzt muss ich das Vergrößerungsglas meiner Zuversicht hervorholen, um die Spuren dieses Deutschlands zu finden. Es gibt sie noch zur Genüge, wenn ich einzelnen Menschen, immer noch vielen Menschen, begegne. Es gibt sie jedoch kaum noch, wenn ich die Profipolitiker, die Institutionen, die mediale Kommunikation, alles in allem das Geflecht der Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur betrachte, in dem wir gemeinsam unser Leben verbringen.
Man sieht diese Veränderung gut in den Medien, wo heute Kälte und Manipulation herrschen. Die Selbstverständlichkeit, mit der Menschen ihre Meinung äußerten, und die wohlgesinnte Neugier der Zuhörer weichen immer mehr einer Zurückhaltung, die aus Einschüchterung resultiert. Die Regierten haben die Hoffnung auf die Gerechtigkeit oder wenigstens auf den gesunden Menschenverstand der Regierenden verloren. Noch vor Corona hatten viele von uns etwas von dieser Hoffnung – wir sind auf die Straßen für die Wende zur Nachhaltigkeit und die Erhaltung der Natur gegangen. Wenige Jahre später werden die wenigen, die es wagen, aktiv gegen die Klimapolitik der Regierenden zu protestieren, ins Gefängnis gesteckt. In den 80ern war es selbstverständlich, dass man für den Frieden und gegen die Aufrüstung auf die Straße ging. Heute wagt es niemand mehr.
Was ist passiert?
Was passiert in Deutschland?
Um zu verstehen, was mit uns passiert, müssen wir die tiefer liegenden Dynamiken der Wirtschaft, der Finanzmärkte und des politischen Systems erkennen. Dabei ist es wichtig, das System als ein Ganzes zu betrachten. Nur dann haben wir eine Chance, die Dynamiken und die Kräfte, die Europa und Deutschland gestalten, zu erkennen.
Die Wirtschaft in Deutschland, die offiziell geäußerten Meinungen, die Entscheidungen unserer Regierung sind seit dem Zweiten Weltkrieg eine Art Schatten der Regeln, Meinungen und Entscheidungen der US-amerikanischen Regierungen. Trotz allem Gehabe der deutschen Regierungen, trotz all dem politischen Theater der Parteien folgen wir auf unserem Weg in die Zukunft einfach dem großen Bruder auf der anderen Seite des Atlantiks. Deswegen hilft uns ungeheuer, das US-System aus Wirtschaft, Geld und Politik zu verstehen. Dort liegen diese Dynamiken nicht nur im Original vor, sie sind auch deutlicher ausgeprägt und deswegen besser sichtbar.
Wenn wir verstehen wollen, warum sich unsere Demokratie so entwickelt, wie sie es tut, müssen wir das System aus Wirtschaft und Politik der USA analysieren. Das Drehbuch für Deutschland und Europa wird dort geschrieben.
Der Impuls für diesen Artikel kommt von einem Film, den ich kürzlich gesehen habe: „Requiem for the American Dream“ von Peter Hutchison, Kelly Nyks, Jared P. Scott, in dem Prof. Noam Chomsky die Dynamiken des politischen Systems in den USA auf den Punkt bringt. Es ist eine sehr lehrreiche Story darüber, was in Amerika seit den 30er- und ganz besonders seit den 70er-Jahren passiert ist. Weil ich als Systemdenker sehe, dass diese Dynamiken (zwar in Miniatur, an unsere Kultur angepasst und mit etwas Verzögerung) auch in Deutschland wirken, habe ich mich dazu entschlossen, die Aussagen des Filmes zusammenzufassen. Wenn wir diese Dynamiken verstanden haben und die aktuellen Entwicklungen in den USA beobachten, werden wir einigermaßen genau wissen, was uns in Deutschland erwartet.
10 Prinzipien der Konzentration von Reichtum und Macht
Die im Film von Noam Chomsky erzählte Story ist die Geschichte der Konzentration des Geldes und der mit dem Geld einhergehenden Macht. Die Menschen, die den Reichtum anhäufen, gestalten das politische System, die öffentliche Meinung, die Regeln der Wirtschaft, die globalen Machtverhältnisse dergestalt, dass diese die weitere Anhäufung von Reichtum und Macht stützen.
Noam Chomsky benennt die zehn wichtigsten Grundsätze, die die Reichen bei ihrem Treiben seit der Entstehung der USA anwenden; seit der von der Öffentlichkeit kaum bemerkten neoliberalen Palastrevolution in den 70ern in zunehmendem Maße. Wir werden sie hier kurz beschreiben.
Grundsatz 1: Demokratie einschränken
Die Geschichte der Demokratien ist durch den Konflikt zwischen dem Druck für mehr Freiheit und Demokratie von unten und den Bemühungen der herrschenden Eliten, Kontrolle und Einfluss von oben zu bewahren. In den 60er-Jahren hat der Druck von unten zu einer wesentlichen Zunahme der persönlichen Freiheit aller Bürger und zur Stärkung der Demokratie beigetragen. Das hat dazu geführt, dass die Verteilung des Reichtums und des Einflusses in der Gesellschaft ausgewogener wurde.
Die Wirtschaft der Vereinigten Staaten wurde zu dieser Zeit immer noch zentral geplant und verwaltet, die Finanzinstitutionen waren strikten Regeln unterworfen (Bretton Woods). Den Menschen ging es finanziell besser und die Reichen waren vielen Restriktionen unterworfen. Diese relativ ausgewogene Verteilung des Reichtums hat das Selbstbewusstsein der Regierten erhöht und sie dazu ermutigt, mehr Freiheit und Demokratie zu verlangen. Die Gegenreaktion der Reichen war umfassend.
Grundsatz 2: Ideologie entwickeln
Ab den 70er-Jahren startete eine riesige konzentrierte und koordinierte Offensive der Wirtschaft, um die egalitäre Tendenz und die demokratisierenden Strukturen innerhalb der Gesellschaft zurückzudrängen. Bezeichnend für diese Offensive ist das damals vertrauliche Memorandum von Lewis F. Powell, Jr. (späterer Richter am Obersten Gerichtshof) an die U.S. Chamber of Commerce, in der er in dringlichen Worten warnte, dass die Unternehmen die Kontrolle über die Gesellschaft verlieren. Auch die sog. Trilateral Commission warnte den Präsidenten, dass der demokratische Aufschwung der 1960er-Jahre eine grundsätzliche Herausforderung für die bestehenden Machtstrukturen war: Die Massen müssen wieder passiv und entpolitisiert werden.
Der Weg zu diesem Ziel war eine grundsätzliche Umgestaltung des wirtschaftlichen Systems.
Grundsatz 3: Die Wirtschaft neu gestalten
Seit den 70er-Jahren bemühen sich die Eigentümer der Gesellschaft (Chomsky) intensiv um eine Veränderung in zweierlei Hinsicht:
1. Stärkung der Rolle der Finanzinstitute, Finanzialisierung der Wirtschaft, Deregulierung der Finanzmärkte;
2. freier Kapitalverkehr, verbunden mit Verlagerung der Produktion ins Ausland. Das Handelssystem wurde mit dem Ziel neu gestaltet, die Arbeiterklasse in verschiedenen Ländern miteinander in Wettbewerb zu bringen. Dies führte zu einem Rückgang des Einkommensanteils der arbeitenden Bevölkerung in den Industrieländern.
Erklärtes Ziel dieser Politik war die Erhöhung der ökonomischen Unsicherheit der Arbeiterklasse (vgl. Monetary Policy Report to the Congress vom 22.02.1994 von Alan Greenspan). Arbeiter, die um ihre Jobs bangen müssen, lassen sich einfacher kontrollieren.
Die umgestaltete Wirtschaft führte zur verstärkten Konzentration von Reichtum und Macht. Der relativ ausgewogenen Verteilung von Reichtum der 50er und 60er wurde ein Ende gesetzt. Große Konzerne und Finanzverwalter verdienten in dem deregulierten System weltweit, also war für sie der Wohlstand im Inland nicht mehr entscheidend.
Grundsatz 4: Die Lasten verlagern
Auch das Steuersystem wurde grundsätzlich verändert. In den 50ern und 60ern und davor waren die Steuern für die Reichen (für Individuen, Unternehmen, Finanzspekulanten usw.) hoch. Ab den 70ern wurden die Steuern auf Vermögen drastisch gesenkt und die Steuern auf Löhne und Konsum erhöht. Der Vorwand dafür war, dass dies Investitionen fördern und Arbeitsplätze schaffen würde. Dafür gibt es jedoch keine Beweise. Im Gegenteil: In den 50er- und 60er-Jahren war das wirtschaftliche Wachstum deutlich höher als danach. Wenn man Investitionen fördern will, muss man den Armen und den arbeitenden Menschen mehr Geld geben: Sie geben ihr Einkommen aus. Das schafft zusätzliche Anfrage, kurbelt die Produktion an und führt automatisch zu Investitionen.
Heute haben die Gewinne der Großunternehmen absurde Ausmaße angenommen. Für diese Gewinne zahlen sie jedoch keine Steuern. Sie haben erfolgreich die Last der Aufrechterhaltung der Gesellschaft auf den Rest der Bevölkerung verlagert.
Grundsatz 5: Solidarität bekämpfen
Im nächsten Schritt wurden die sozialen Systeme angegriffen und privatisiert. Für die Herrschenden ist Solidarität in der Gesellschaft gefährlich: Menschen sollen sich nur um sich selbst kümmern.
Mitgefühl, Hilfsbereitschaft, Fairness, Solidarität sind jedoch grundlegende menschliche Gefühle. Es erfordert viel Mühe, sie aus den Köpfen der Menschen zu verbannen. Die Taktik dafür war eine Mischung aus neoliberaler Ideologie und Unterinvestition. Wenn man ein System zerstören will, entzieht man ihm die finanziellen Mittel. Infolgedessen funktioniert es nicht mehr, die Menschen werden unzufrieden und wollen etwas anderes. Dann privatisiert man das System. Die Privatisierung bringt außerdem eine sichere Gelegenheit, das Kapital zu vermehren.
Das Ergebnis ist, dass die heutige viel reichere Gesellschaft sich anscheinend viele kostenlose öffentliche Dienstleistungen nicht leisten kann. Diese sind jedoch die Grundlage der Gesellschaft.
Grundsatz 6: Die Regulierer kontrollieren
Die USA werden seit den 70er-Jahren de facto von Interessengruppen der Industrie, der Finanzen und des militärisch-industriellen Komplexes regiert. Die Bankenlobby schreibt die Bankenregulierungen, die Unternehmen geben die Wirtschaftspolitik vor, die Rüstungskonzerne entscheiden über Kriege. Wenn man sich die Verteilung der Macht innerhalb der US-Gesellschaft ansieht, ist das eine natürliche, ja, unvermeidbare Entwicklung.
Das ist übrigens (bis auf die Kriege) in Europa nicht grundsätzlich anders. Sie erinnern sich vielleicht z. B. an die Entscheidung, fossile Gaskraftwerke als grün zu definieren, oder an den Auftrag der EU an BlackRock, eine Studie über die Einbeziehung von ESG-Fonds in die EU-Bankenvorschriften zu erstellen.
Der Staat reguliert und dereguliert also eifrig, wenn es darum geht, die Konzentration des Kapitals zu begünstigen. Wenn diese Konzentration durch eine Finanzkrise einen Rückschlag erleidet, überlässt die Regierung die Spekulanten und die Konzerne nicht dem Markt, sondert rettet sie mit Bailouts. Gleichzeitig zieht sie sich immer mehr aus der Verantwortung für die Finanzierung der sozialen Systeme zurück unter dem Vorwand, dass sich der Staat aus dem Bereich der sozialen Dienstleistungen heraushalten soll, weil der Markt sie am besten regeln kann. Es gibt also in der Praxis ein Regelwerk für die Reichen und ein anderes Regelwerk für die Armen.
Grundsatz 7: Die Wahlen beeinflussen
Die Konzentration von Reichtum führt zur Konzentration politischer Macht. Die Wege, die der Reichtum nimmt, um die Wahlen zu beeinflussen, variieren von Land zu Land, von politischem System zu politischem System, das Endresultat ist jedoch ähnlich. In den USA ist dieser Einfluss direkt und unverhohlen: Die Konzerne und Lobbygruppen zahlen das Geld direkt auf die Konten der beiden Präsidentschaftskandidaten. Milliarden.
Würde eine der Parteien auf die absurde Idee kommen, nach der Wahl nicht die Interessen ihrer Geldgeber zu vertreten, stünde sie bei der nächsten Wahl ohne Mittel für ihre Wahlkampfshow da und würde die Wahl verlieren.
Dieses politische System hat sich nicht zufällig derart entwickelt. Im Jahr 1868 wurden in den USA die persönlichen Rechte der Menschen im Grundgesetz verankert, und bald danach wurde von den Großunternehmen ein Prozess eingeleitet, um Unternehmen dieselben Rechte, wie sie den Menschen zustehen, zu verleihen. Dieser Prozess endete im Jahr 2010 mit der Entscheidung des Supreme Courts, dass Geld eine Form der Meinungsäußerung sei und deswegen im politischen Prozess nicht behindert werden darf.
„Das ist USA“, könnte jemand sagen, „die Parteien in Deutschland finanzieren ihren Wahlkampf anders.“ Denken Sie darüber nach. Erstens sind auch in Deutschland Unternehmen Personen und haben in vielen Bereichen mehr Rechte als die Bürger. Natürlich nutzen sie diese, um den Rechtsrahmen für ihre Einflussnahme zu erweitern. Erinnern Sie sich z. B. an Öl- oder Energiekonzerne, die gegen europäische Regierungen wegen geänderter Energiepolitik klagten?
Ist es zweitens nicht zu erwarten, dass CDU, AfD oder SPD angesichts des wachsenden Einflusses der Medien auf die Wahlergebnisse Mittel und Wege suchen werden, um die wachsenden Kosten medialer Kampagnen zu decken?
Grundsatz 8: Den Pöbel in Schach halten
Gewerkschaften waren eine Schranke gegen die Tyrannei der Unternehmen und eine wichtige demokratisierende Kraft. Sie wurden systematisch diskreditiert und bekämpft. Die Idee, dass die Arbeiter ausgenutzt werden, überhaupt dass sie so etwas wie eine Klasse in der Gesellschaft darstellen, wurde systematisch aus den Köpfen der Menschen verbannt. Mit dem Rückgang der organisierten Arbeitnehmerschaft ging (nicht überraschend) ein beispielloser Anstieg der Ungleichheit zwischen der Bezahlung der Angestellten und ihrer Bosse einher.
Grundsatz 9: Zustimmung herbeiführen
Die PR-Branche entstand vor 100 Jahren in den USA und Großbritannien, als klar wurde, dass es schwierig sein wird, die Bevölkerung mit der Staatsgewalt in Schach zu halten. Es wurde deswegen die Idee geboren, dass man sie durch die Kontrolle ihrer Überzeugungen und Einstellungen kontrollieren müsse. Die Erschaffung von Konsumenten (Thorstein Veblen) wurde als Ziel formuliert. Davon, dass dies eine überlegte Strategie war, zeugt z. B. die damalige Wirtschaftspresse.
Wie Walter Lippmann es damals formulierte: „Die Öffentlichkeit muss an ihren Platz verwiesen werden, […] damit wir frei vom Druck und dem Geschrei einer verwirrten Herde leben können.“ „Wenn die Menschen zu Zuschauern werden, dann werden wir eine gut funktionierende Demokratie haben“, war die Meinung. Die Werbebranche explodierte daraufhin förmlich.
Meine Randanmerkung dazu ist, dass damit auch die Weichen für die Degenerierung der westlichen Kultur gestellt wurden, die heute in der seichten, manipulierenden Welt des Konsums und der Medien so schmerzlich deutlich wird. Dahinter steht die Idee, die gesamte Gesellschaft in ein reibungsloses System aus Produktion und Konsum zu verwandeln. Unter der schillernden und bewegten Oberfläche dieses Systems wird still von einigen wenigen Reichtum angehäuft. Heute funktioniert dieses System noch besser mit dem Internet, wo uns ununterbrochen gezeigt werden kann, was anstrebenswertes Leben ist. Und der Reichtum fließt online in die Taschen einer Handvoll Internetmagnaten.
Dieselben PR-Agenturen unter Nutzung derselben Techniken gestalten heute die politischen Kampagnen. Die PR hatte immer die Aufgabe, uninformierte Verbraucher zu schaffen, die irrationale Entscheidungen treffen. In der Politik besteht ihre Aufgabe darin, eine uninformierte Wählerschaft zu schaffen, die irrationale politische Entscheidungen trifft, oft gegen ihre eigenen Interessen. Dafür muss die Bevölkerung auf eine falsche Fährte gelockt werden. Der Grund für diese Notwendigkeit liegt auf der Hand: Was die Menschen eigentlich wollen, ist stark von dem entfernt, was die Parteien und die privaten Interessengruppen, die ihre Kampagnen finanzieren, wollen. Also wird die Bevölkerung im politischen Spiel in die Irre geführt und dadurch marginalisiert. Die modernen Medien bieten dafür die perfekten Voraussetzungen.
Grundsatz 10: Die Bevölkerung an den Rand drängen
Die Menschen wissen, dass sie keinen Einfluss haben, und sind deswegen unzufrieden. Bei manchen führt das dazu, dass sie Wut empfinden. Ihre Wut richtet sich aber gegen die Vertreter des Staates, gegeneinander und gegen die Schwachen. Und genau darum geht es: Die Menschen sollen sich gegenseitig fürchten und hassen und nur nach sich selbst schauen.
Wenn diese Tendenzen nicht umgekehrt werden, wird daraus eine extrem hässliche Gesellschaft entstehen. Wenn jedoch die globale Gesellschaft auf diesen Prinzipien basiert, wird sie in einer massiven Selbstzerstörung enden.
Was tun? John Dewey, ein führender Sozialphilosoph, meinte: Solange nicht alle Institutionen (Produktion, Handel, Medien …) unter partizipativ-demokratischer Kontrolle stehen, werden wir keine funktionierende demokratische Gesellschaft haben. Die Wirtschaft wird immer über der Gesellschaft stehen.
Herrschaftsstrukturen, in denen einige Befehle erteilen und andere sie befolgen, sind nicht per se gerechtfertigt. Die Machthaber müssen dieses Gefüge deswegen rechtfertigen. Sie tun es jedoch nicht direkt – dies würde den Regierten auffallen, und sie könnten unbequeme Fragen stellen. Deswegen verschleiern die Regierenden die wahren Machtstrukturen und Mechanismen des Systems.
Der Film endet mit der Frage an Noam Chomsky, wie dieser Teufelskreis aus Anhäufung von Reichtum und Macht unterbrochen werden könnte. Seine Antwort ist wenig spektakulär und praktisch: Die Aktivisten der Vergangenheit haben die Rechte geschaffen, die wir heute genießen. Die künftigen Veränderungen werden auch so zustande kommen. Was zählt, sind die unzähligen kleinen Taten unbekannter Menschen, die den Grundstein für die bedeutenden Ereignisse legen, die die Geschichte verändern.
Das kapitalistische System ist für Ungleichheit designt
Die Konzentration von Reichtum führt zur Konzentration von Macht. Die konzentrierte Macht gestaltet die Regeln des Systems (als ein Agglomerat aus Politik, Staat, Wirtschaft, öffentlicher Meinung) derart, dass der Reichtum weiter angehäuft werden kann. Es ist eine Rückkopplungsschleife – ein Teufelskreis, wie Noam Chomsky es nennt.
Dabei ist es wichtig, dass wir etwas Grundsätzliches verstehen. Es ist keine Verschwörung der Reichen und keine pathologische Entwicklung, die sich im Rahmen des bestehenden Systems korrigieren ließe. Das kapitalistische System ist so designt, dass der Reichtum angehäuft werden muss. Die Unternehmen müssen immer reicher werden, um sich im Konkurrenzkampf zu behaupten. Dadurch werden automatisch Personen und Fonds, die die Unternehmensanteile besitzen (und auch die Vorstände), immer reicher. Und mächtiger. Um das Wachstum der von ihnen gehaltenen oder gemanagten Unternehmen zu unterstützen, müssen sie ihre zugewonnene Macht derart nutzen, dass die Anhäufung möglichst ungestört voranschreitet. Sonst würden ihre Konkurrenten (die anderen Unternehmen und andere Besitzer) das Spiel gewinnen. Es kommt, wie es kommen muss. Es kann gar nicht anders sein. Die Spirale des Reichtums und der Macht steigt immer weiter.
Entweder gibt es Demokratie oder die Macht weniger. Beides geht nicht. Entweder gibt es eine gerechte Gesellschaft oder die Anhäufung des Kapitals. Beides geht nicht. Entweder herrscht internationale Zusammenarbeit, oder die Politik wird vom Militärkomplex bestimmt. Beides geht nicht.
Das politische System der USA ist ein korruptes. Die Unternehmen und finanzielle Institutionen regieren dort de facto. Das kann man über das politische System in Deutschland noch nicht sagen: Die Reichen beeinflussen die Wirtschafts- und Fiskalpolitik der deutschen Regierung stark, aber sie haben noch nicht die alleinige Kontrolle. Der Kern meiner Aussage ist aber: Das müssen sie auch nicht.
Deutschland und die EU (nicht zuletzt wegen des deutschen Gewichtes der letzten Jahrzehnte) haben die entscheidenden Regeln der Ökonomie und der Politik der USA übernommen. Auf diese Weise konnten die US-amerikanischen Großkonzerne, Banken, Asset-Management-Firmen und Lobbys indirekt auch über unsere Politik gut genug bestimmen.
Die vielen oberflächlichen Regulierungen der EU, die den Konzernen auferlegt werden, sollen den Eindruck erwecken, dass in Europa etwas gegen die Willkür und Macht der wirtschaftlichen Riesen getan wird. Das Einzige jedoch, was sie unter dem Strich bewirken, ist eine enorme bürokratische Last für den Rest der Wirtschaft. Diese Regulierungen sind Nebelkerzen der Bürokratie, die von dem grundlegenden Fakt ablenken sollen, dass wir in Deutschland und Europa nichts an dem in den USA entwickelten Wirtschaftssystem ändern wollen.
Was mit unserer Gesellschaft passiert, ist nicht normal
Was in den USA passiert, ist nicht normal – es ist weit außerhalb des Rahmens der Vernunft und Güte. Was mit Deutschland passiert, ist aber auch nicht normal, auch wenn die Nichtnormalität nur eine Miniatur des US-Systems ist.
Wir dürfen nicht vergessen, was normal ist. Menschen, die sich gegenseitig helfen, die sich umeinander und um das Stück des Planeten, wo sie leben, kümmern, die gut und höflich zu den anderen sind, die miteinander sanft und vernünftig sprechen, die mit ihrer Arbeit anderen dienen, sind normal. Unser wirtschaftliches und politisches System unterstützt das normale Verhalten der Menschen nicht. Im Gegenteil.
Deswegen ist die Welt, in der wir heute leben, auch nicht normal. Kriege, das Schieben von Milliarden von links nach rechts und in die Taschen von denen, die mit ihnen sowieso bloß spekulieren werden, Einbildung und fehlendes Mitgefühl unserer Regierung, die Demontage der Gesellschaft sind nicht normal. Normal sind Frieden, Gerechtigkeit und Fürsorge.
Auch wenn bisher noch kein politisches System die Gerechtigkeit hervorbrachte, ist sie ein normales menschliches Bedürfnis. Der Grund für das Scheitern war und ist einfach: Die Machthaber verfolgen andere Ziele.
Wir haben in Deutschland diese in den USA erdachte Nichtnormalität weitgehend übernommen. Ich sage z. B. schon heute voraus, dass, nachdem die USA Grönland annektiert haben, unsere Regierung sich zwar empört äußern, ihre internationale Politik aber nicht grundsätzlich ändern wird. Wir werden weiterhin versuchen, Russland zu schaden, China bei seiner Entwicklung zu hindern, und nichts gegen das imperialistische Gehabe der USA in der restlichen Welt tun. Nachdem die deutschen Konzerne ihre Produktion über den Atlantik verlagert haben, wird unsere Regierung eine Art Mittelstandsprogramm zur Rettung der deutschen Wirtschaft starten, sie wird jedoch nicht das US-amerikanische System aus Kapital, Finanzspekulation und Macht der Superreichen infrage stellen.
Wir haben leichtfertig eine halbe Billion wegen eines Grippevirus ausgegeben. Es gibt indessen eine viel gefährlichere Krankheit, die die Unversehrtheit unserer Gesellschaft, den Wohlstand, unsere Kultur verzehrt. Trotzdem rufen wir keinen nationalen Notstand aus.
Es ist für jeden, der sich nicht völlig in seiner eigenen Ideologie verloren hat, klar ersichtlich, dass die USA nicht zufällig von Interessengruppen der Reichen und von zynischen Politikern regiert werden und dass ihre Interessen nicht unsere Interessen sind – weder als Land noch als Menschen. Das neoliberale Wirtschaftssystem hat sich so eindeutig als falsch erwiesen, wie es nur sein kann. Und trotzdem denkt niemand in der Regierung ernsthaft über Alternativen nach. Sie wird sich vielleicht von der US-amerikanischen Politik distanzieren, sie wird vielleicht sogar die Handelsbeziehungen Deutschlands auf den Prüfstand stellen, aber was die Basis des Übels angeht, wird sie nicht umdenken. Sie wird darauf warten, dass die Amerikaner irgendwann zur Vernunft kommen, um zum business as usual zurückkehren zu können.
Wir müssen die Demontage der Gesellschaft aufhalten
Wir als Wähler, als mündige Gesellschaft müssen dringend das ganzheitliche Denken, das Denken in Systemen lernen. Wir müssen lernen, die Mechanismen hinter den gefährlichen Entwicklungen der heutigen Welt besser zu verstehen, als es unsere Politiker tun.
Wir brauchen eine aktive Gesellschaft, die ihre Zukunft bewusst gestaltet. Dabei können wir uns nicht länger auf unsere Regierungen und die üblichen Experten verlassen.
Dabei müssen wir aufhören, den selbst ernannten Experten in den Massenmedien pauschal unseren Glauben zu schenken. Die meisten von ihnen verstehen die Systeme, über die sie reden, nicht. Das kann man wunderbar beobachten in Zeiten, wenn sich die Windrichtung ändert, so wie jetzt mit den Aktionen der US-Regierung. Diese Experten sagen uns heute oft das Gegenteil dessen, was sie noch vor Kurzem erklärt haben. Ihren Nutzen kann man mit dem Nutzen einer Wetterstation vergleichen. Die meisten von uns haben keine Zeit, die Windrichtung und andere Wetterdaten zu untersuchen. Deswegen ist es gut, wenn uns jemand die Daten verdichtet und klar strukturiert präsentiert. Wir müssen aber vorsichtig sein, wenn die Wetterstationen uns z. B. die Ursachen der Klimaerwärmung zu erklären versuchen.
Die Ursachen für Entwicklungen in komplexen sozialen Systemen liegen nie auf der Oberfläche, wo sie beobachtet werden können. Für ihre Erklärung ist ein profundes Verständnis der Dynamiken des Systems notwendig. Sie offenzulegen, setzt ein Verständnis des Systems, der Ziele, die es verfolgt, der komplexen Abhängigkeiten und Interaktionen zwischen den Akteuren, der Geld- und Ressourcenflüsse, der Abhängigkeiten und Interaktionen des Systems innerhalb seiner Umgebung, der Glaubenssätze der Menschen und der Kultur voraus. Um all diese Abhängigkeiten zu sehen, ist eine unvoreingenommene und holistische Betrachtung des Systems notwendig. Sie ist bei den Experten selten anzutreffen.
Es gibt natürlich auch Fachleute, die das Verständnis des Systems besitzen, sie werden aber selten von den Mainstream-Medien befragt. Also müssen wir, die Wähler, die aktive Gesellschaft, das Denken in Systemen lernen, um diese wenigen Fachleute erkennen zu können. Und vor allem, um selbst das System zu verstehen. Die Dynamiken der modernen Zivilisation sind so machtvoll, dass wir ihnen ausgeliefert bleiben, wenn wir sie nicht durchschauen und verändern.
Es ist unsere Gesellschaft und unser Land, und wir sollen niemandem erlauben, sie rückzubauen. Nur eine aktive Gesellschaft kann diese Demontage verhindern. Sie besteht aus aktiven Bürgern, die zusammenkommen, um ihr Land gemeinsam und bewusst umzugestalten. Prof. Chomsky hat in dem oben besprochenen Film schon recht: Wir kommen nicht drum herum, Aktivisten zu werden.
Alan P. Stern ist ein Systemdenker und praktischer Philosoph. Akademisch in naturwissenschaftlichen wie auch in praktisch-wirtschaftlichen Fächern ausgebildet, arbeitete er als Manager und Unternehmensberater.
Im Jahr 2019 erschien sein Buch „Redesigning Civilization; wie erschaffen wir die westliche Zivilisation neu?“
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