Definition einer Demokratie von unten – für einen politischen Idealismus
- Alan P. Stern
- 31. März
- 16 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 24. Mai
Demokratie bedeutet Herrschaft des Volkes. In einer solchen Demokratie leben wir nicht. Das politische System bringt Regierungen hervor, die nicht mehr im Namen des Volkes handeln. Es ist an der Zeit, das demokratische System der Reife der modernen Gesellschaft und den Herausforderungen der Gegenwart anzupassen. Es muss effektiv, gerecht und vernunftgeleitet funktionieren. Wir müssen die Demokratie neu von unten aufbauen.
Ein solcher Entwurf existiert bereits. Es wurde als politischer Idealismus abgetan. Was bedeutet Idealismus? Brauchen wir denn keine Ideale?

Repräsentative Demokratie: ein politisches Spiel
Die Macht wurde schon immer im Interesse einiger weniger ausgeübt. Deswegen wird sie Macht genannt. (Wenn ich meinen Willen durchsetzen kann, tue ich es eben.) Das wird sich auch nie ändern. Nun sagen einige (ich dachte das bis zum Anfang des Jahrhunderts ebenfalls), dass wir in unserer Demokratie anstelle von Machthabern von uns selbst gewählte Regierungen haben, die, statt Macht auszuüben, im Interesse ihrer Wähler regieren. Die Auswüchse der Macht schienen der Geschichte oder in die Länder zu gehören, die undemokratisch waren. Spätestens seit der Finanzkrise im Jahr 2008 wissen wir, dass auch unsere Regierung im Sinne der Superreichen handelt. Die sehr Reichen sind also de facto an der Macht, wenn auch indirekt.
Warum ist dem so? Sind die Politiker einfach korrupt? So simpel ist die Welt nicht. Zuerst müssen wir verstehen, was unsere repräsentative Demokratie ist. Sie ersetzte die von den Reichen direkt etablierte oder im Reichtum geerbte Macht eines Herrschers. Dieser hatte selbstverständlich seine eigenen Interessen und die Interessen derjenigen vertreten, von deren Unterstützung er abhängig war – in der Regel die der Reichen. Das politische System war folgerichtig auf dieses Ziel optimiert: Es war zentralisiert und top-down.
Die Revolutionen ersetzten die Herrscher durch gewählte Regierungen. Die Macht blieb aber zentralisiert und das politische System top-down. Das schien den Wählern zuerst in Ordnung, weil sie davon ausgingen, dass jetzt sie selbst (durch ihre Vertreter) an der Macht sind. In der Praxis wurden bald die gewählten Machthaber zu abgewandelten Herrschern. Eine zentralisierte Macht verändert nämlich unvermeidbar diejenigen, die sie ausüben. Die Ausnahmen von dieser Regel sind sehr selten. Noch seltener, wenn die Machthaber innerhalb eines Systems regieren, das zur Machtausübung designt wurde. Die Regierungen und die Parlamente haben über viele Jahrzehnte an der weiteren Vervollkommnung des Systems gefeilt. Auch das war eine ganz natürliche Entwicklung – es war ihr System und sie wollten, dass es gut funktioniert.
Für die Reichen waren die Revolutionen zuerst eine Herausforderung, die sie jedoch bravourös gemeistert haben. Sie besaßen ja die Produktionsmittel, und die Regierungen wollten, dass produziert wird, damit die Bevölkerung Arbeit und der Staat Steuereinnahmen haben. Das war die Karotte, die die Reichen in der Hand hielten. Funktionierte mal die Karotte nicht gut genug, hielten sie hinter dem Rücken in der anderen Hand die Peitsche der Drohung, dass sie mit ihren Produktionsmitteln wegbleiben oder -gehen. Das reichte aus, um die demokratisch gewählten Regierungen in ihrem Interesse entscheiden zu lassen. Viele der Regierenden glaubten vermutlich einfach daran, dass sie im Interesse aller handeln, wenn sie die Reichen bei ihrer Investitionslaune halten.
Unser demokratisches politisches System hat den König durch eine Regierung ersetzt, aber die Machtstrukturen blieben weitgehend unverändert: zentral, top-down, tendenziell autokratisch. Nur die Machthaber ändern sich alle vier Jahre.
Dann wuchs die Macht der Medien zu einem mitentscheidenden politischen Faktor. Durch die Medienrevolution der letzten zwei Dekaden konnten theoretisch auch die Nichtreichen direkt auf das etablierte politische Spiel Einfluss nehmen. Die Gefahr, dass dadurch neue, nicht durch das politische System geformte Menschen an die Macht kommen, war zwar gering, aber weil die Reichen die Medien sowieso kontrollieren wollten (die Medienkonsumenten waren auch Warenkonsumenten), sorgten sie dafür, dass das Internet privatisiert, sprich kommerzialisiert, wurde. Damit war die Macht der Medien mehr denn je in die Hände der Reichen gelegt. Als das politische Spiel zunehmend dort stattfand, waren sie für die Einflussnahme gut vorbereitet.
Zusätzlich gab und gibt es natürlich auch die Möglichkeit, einen zukünftigen Regierungschef zum hochbezahlten Aufsichtsratsvorsitzenden zu machen oder einem Minister anzudeuten, dass er nach seinem Regierungsjob millionenschwere Berateraufträge erhält, aber in Deutschland war dieses Mittel lange (obwohl durchaus genutzt) nicht entscheidend. Das ändert sich aber. Der Kapitalismus hat sich durch den Vormarsch des Internets und die damit verbundene Konzentration der Macht und des Kapitals verändert und damit die Strategien der Superreichen. Sie wollen die rücksichtslose digitale Macht um die rücksichtslose politische Macht ergänzen. Sie wollen die Regierungen direkt beeinflussen und werden damit in immer mehr Ländern erfolgreich. Sie werden es auch in Berlin tun.
Der Kapitalismus hat sich nach dem Siegeszug des privatisierten Internets verwandelt. Die neuen Super-Superreichen wollen nun die rücksichtslose digitale Macht um die rücksichtslose politische Macht ergänzen. Und sie haben damit zunehmend Erfolg.
Was ist also unsere repräsentative Demokratie? Sie ist ein politisches System, in dem die Regierungen top-down unter Wahrung der Interessen der Superreichen entscheiden und die öffentliche Meinung derart beeinflusst wird, dass die Wähler im Spiel bleiben und nicht aus dem Rahmen fallen. Unsere repräsentative Demokratie ist also ein politisches Spiel. Aber keine Herrschaft des Volkes.
Unsere repräsentative Demokratie ist ein politisches Spiel. Aber keine Herrschaft des Volkes.
Demokratie von unten aufgebaut
In unserem politischen System geschieht alles im Namen des Volkes. Formell. Wenn die Regierung beispielsweise eigenwillig milliardenschwere Schulden aufnimmt oder mit ihrer Politik einen Atomkrieg in Kauf nimmt, tut sie das im Namen des Volkes, auch wenn vielleicht die Mehrheit der Wähler es anders sehen sollte. Der Begriff „Volk“ wird also abstrakt verstanden. Abstrahiert kann man ihn fast nach Belieben nutzen. Und benutzen. Dies ist praktisch unvermeidbar, wenn von oben nach unten regiert wird.
Meine Definition des Volkes ist sehr konkret: Es sind Ihr Nachbar und die Lehrerin Ihres Kindes, der Busfahrer, der mich zum Bahnhof bringt, und die Professorin, mit der ich mich in diesem Zug unterhalte. Es sind wir. Kann dieses Volk in einem Staat herrschen? Kann es regieren? Ja, allerdings müsste sich dafür der Staat anders organisieren und verwalten. Es bedürfte eines anderen politischen Systems. Ich habe ein solches System in meinem Buch „Redesigning Civilization – Wie erschaffen wir die westliche Zivilisation neu?“ beschrieben.
Es gibt ein durchdachtes Konzept einer direkten Demokratie, das auf die Bedürfnisse des modernen Staates angepasst ist und die Vorteile der repräsentativen Demokratie mit der Idee der Herrschaft des Volkes verbindet.
Es gibt einen sehr schönen und schlüssigen Entwurf eines demokratischen Staatssystems, der von zwei prominenten US-amerikanischen Systemdenkern stammt: Russell L. Ackoff und Sheldon Rovin. Sie haben es in ihrem bei Stanford Business Books im Jahr 2003 erschienenen Buch „Redesigning Society“ beschrieben. Dieser Entwurf wurde konsequent von unten nach oben entwickelt mit dem Ziel, die Schwächen unseres gegenwärtigen politischen Systems zu beseitigen.
Die Grundeinheit dieses Systems besteht aus ca. 100 Bürgern, die entweder an einem Ort wohnen oder arbeiten. Sie kommen zusammen und treffen alle sie betreffenden Entscheidungen, und zwar im Konsens. Sie wählen aus ihren Reihen eine Person, die diese Grundeinheit leitet.
Die Leiter von etwa zehn geografisch zusammenhängenden Grundeinheiten bilden die nächsthöhere Regierungseinheit. Dieser Prozess geht so weiter, bis die Einheit der höchsten (im Regelfall der nationalen) Ebene gebildet ist. In Deutschland wäre dieser Prozess nach sieben Schritten zu Ende, weil die siebte Ebene bereits 100 Millionen Wahlberechtigte repräsentieren kann.
Auch die übrigen Amtsträger, die auf den einzelnen Regierungsebenen benötigt werden, werden von den Mitgliedern der jeweiligen Einheit gewählt – es dürfen Experten, die nicht der Einheit angehören, sein. Von den Leitern der Einheiten aller Ebenen wird erwartet, dass sie auch an den Sitzungen der Einheiten der nächsthöheren und der nächstniedrigeren Ebene teilnehmen. Daher nehmen sie direkt an der Arbeit der Einheiten auf drei verschiedenen Ebenen teil. Dabei interagieren sie direkt mit den Leitern von fünf verschiedenen Regierungsebenen: zwei über ihrer eigenen Ebene, zwei darunter und die auf ihrer eigenen Ebene. Diese Interaktionen erleichtern die Koordinierung und Entscheidungsfindung im gesamten System.
Diejenigen, die in einem Gebiet arbeiten, in dem es keine Wohnungen gibt (zum Beispiel in einem Gebäudekomplex mit Geschäften oder Büros), sollten der Grundeinheit angehören, die dieses Gebiet regiert. Personen könnten sich deswegen an der Arbeit mehrerer Grundeinheiten beteiligen, in der sie einen Wohn- oder Arbeitsort haben. Sie dürfen allerdings bei einer bestimmten Wahl nicht mehr als einmal ihre Stimme abgeben.
Am Ende eines jeden Stimmzettels erscheint ein Eintrag: „jemand anders“. Wer für „jemand anders“ stimmt, protestiert damit gegen die angebotenen Kandidaten. Erhielte „jemand anders“ die Mehrheit der Stimmen, müssten neue Kandidaten ausgewählt und die Wahl wiederholt werden.
Der Wahlzettel ist zu einer Wahl zwischen Parteien und Propagandakampagnen verkommen. Die Einführung der Möglichkeit, eine Stimme gegen alle Kandidaten abzugeben und Amtsträger abzuberufen, würde die Stimme des Volkes aufwerten.
Politische Parteien sind zulässig, ja sogar erwünscht. Ihre Wahlprogramme müssen aber mehr als eine Ansammlung von Plattitüden sein. Sie müssen eine Erklärung und Begründung der Ziele sowie die Höhe und Art der erforderlichen Mittel und deren Quellen enthalten. Auch die parteilosen Kandidaten sind verpflichtet, solche detaillierten Programme zu veröffentlichen. Ein überparteilicher Wahlkampfausschuss stellt sicher, dass der Wahlkampf konstruktiv geführt wird und nicht darauf abzielt, die Gegner zu verunglimpfen. Er würde bei einem negativen Wahlkampf eine Verwarnung aussprechen und im Wiederholungsfall den Kandidaten aus dem Verfahren ausschließen. Ein gewählter Amtsträger, der seine Wahlversprechen nicht einhält oder keine nennenswerten Anstrengungen unternimmt, um sie zu erfüllen, kann von den Wählern abberufen werden.
Jede Einheit schuldet ihren direkt darunterliegenden Einheiten Rechenschaft. Die Einheiten sind in ihren Entscheidungen völlig frei, solange diese keine Auswirkungen auf andere Einheiten haben. Sind andere Einheiten betroffen, müssen sie der Entscheidung zustimmen. Verweigern sie ihre Zustimmung, kann sich die entscheidende Einheit an die nächsthöhere Einheit wenden. Die übergeordneten Einheiten dürfen nur dann tätig werden, wenn sie von den ihnen angehörenden Einheiten dazu ermächtigt wurden. Alle Macht und Ressourcen fließen in diesem System von unten nach oben.
Es ist möglich, ein politisches System so zu gestalten, dass die Macht von den Bürgern schrittweise von unten nach oben delegiert wird. In diesem System liegt die Verantwortung immer zuerst bei den direkt beteiligten Bürgern. Wenn es ihnen bei einer konkreten Aufgabe sinnvoll erscheint, können sie ihre Macht (aber nicht die Verantwortung) nach oben verlagern.
Ackoff und Rovin illustrieren diesen Fluss der Macht und Ressourcen mit Beispielen. So könnten Einheiten der niedrigeren Ebene beschließen, ihre eigenen Schulen zu betreiben, aber die Verantwortung für Polizei an Einheiten der höheren Ebene delegieren. Wann immer eine Zuständigkeit nach oben delegiert wird, müssen die delegierenden Einheiten entweder die für die Durchführung der delegierten Zuständigkeit erforderlichen Ressourcen bereitstellen oder die dienende Einheit ermächtigen, dafür Gebühren zu erheben. Öffentliche Dienstleistungen würden sich deswegen tendenziell auf der Ebene ansiedeln, auf der sie zu den geringsten Kosten erbracht werden können. (Dieses System geht davon aus, dass die Einheiten über ihre eigenen Steuern beschließen und sie einziehen.) Die Haushalte aller Einheiten müssen von den ihnen angehörenden Einheiten genehmigt werden.
Die Einheiten auf allen Ebenen erstellen Pläne, Richtlinien, Gesetze und Vorschriften. Für ihre Umsetzung sind ihre direkt gewählten „Regierungen“ oder Leitungen verantwortlich. Diese werden von ihren Einheiten kontrolliert. Jede Einheit ist dafür verantwortlich, dass die Pläne, Richtlinien, Gesetze und Vorschriften der ihr angehörenden Einheiten koordiniert werden, um etwaige Konflikte zwischen ihnen zu lösen. Darüber hinaus ist es keiner Einheit gestattet, einen Plan oder eine Richtlinie zu erstellen, die mit einem Plan, einer Richtlinie, einem Gesetz oder einer Verordnung der niedrigeren Ebene kollidieren, es sei denn mit ihrer Zustimmung.
Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass es zu Konflikten oder Unstimmigkeiten zwischen den Ebenen kommt, da jede Einheit (natürlich mit Ausnahme der niedrigsten und der höchsten) Mitglieder von sowohl übergeordneten als auch untergeordneten Einheiten enthält; diese Mitglieder werden potenzielle Konfliktquellen oder Unstimmigkeiten rechtzeitig aufdecken. Dadurch ist es unwahrscheinlich, dass Maßnahmen ergriffen werden, die unvorhergesehene negative Auswirkungen auf andere Einheiten haben.
Nun sieht der Entwurf vor, dass alle Entscheidungen in Konsens getroffen werden. Ist das möglich? Die Autoren (Russell L. Ackoff war ein im höchsten Maße erfahrener Berater in Entscheidungs- und Umstrukturierungsprozessen) berufen sich auf ihre Erfahrung und sagen: „Ja, wir haben noch nie einen Fall erlebt, in dem ein Konsens nicht zustande kam.“
Die Kunst besteht darin, sich auf ein Vorgehen, auf die Kriterien und auf den Prozess der Entscheidungsfindung einstimmig zu einigen, anstatt gleich über Meinungen und fertige Lösungsvorschläge zu diskutieren. Wird am Ende des Entscheidungsprozesses doch kein Konsens erzielt, können sich die Beteiligten einstimmig auf einen Praxistest einigen, der zum Beispiel auf der Analyse der empirischen Daten zu der Sachfrage beruht. Wenn der Test gemeinschaftlich entwickelt wurde, wird auch sein Ergebnis von allen akzeptiert. Es ist zielführend, solche Entscheidungsfindungsprozesse von einem ausgebildeten und erfahrenen Dritten begleiten zu lassen, der es versteht, die scheinbaren Meinungsunterschiede zu Definitions- oder Sachfragen umzuformulieren. Bei gut definierten Problemen und bei Erwägungen zu Sachfragen finden die Beteiligten immer zusammen. Die Gruppe kann außerdem zum Anfang einen Konsens darüber erzielen, wie sie mit einer Situation umgehen wird, in der kein Konsens erzielt werden kann. Sie kann zum Beispiel einstimmig beschließen, dass in einem solchen Fall der Leiter die Entscheidung treffen wird.
Sachlich geführte und von einem Profi geleitete Entscheidungsfindung führt immer zum Konsens. Solch eine Entscheidungsfindung würde unsere Gesellschaft verändern und die Lösungen unserer Probleme verbessern.
Aus dem Design dieses Systems resultiert, dass es keine nationalen und lokalen Wahlen mehr gibt. Die Exekutiven des Staates werden auf allen Ebenen in dem oben beschriebenen stufenweisen, basisdemokratischen Prozess gewählt.
Demokratie von unten, aber föderal
Der oben beschriebene Systementwurf der mehrfach eingebetteten Ebenen kann auf die Bedürfnisse des in Deutschland existierenden, föderalen Systems adaptiert werden. Die Struktur der lokalen Gemeinschaften, die sich selbst verwalten und ihre Vertreter in die jeweils höhere Ebene schicken, ist gut. Es kann keine Demokratie geben, die direkter ist. Sie führt zu einer Gesellschaft, die verantwortlich und aktiv zusammenarbeitet. Bei diesem System müssten wir uns weder Sorgen darüber machen, dass Populisten die Macht auf nationaler Ebene oder in den Bundesländern übernehmen, noch unpopuläre Entscheidungen scheuen.
Die Demokratie von unten fördert Verantwortung für die Gemeinschaft und Zusammenarbeit der Menschen. Sie würde eine belastbare Grundlage für die Lösung unserer wachsenden zivilisatorischen, gesellschaftlichen und politischen Probleme schaffen.
In dem von Russell L. Ackoff und Sheldon Rovin vorgeschlagenen politischen System gibt es kein Parlament. Jede Einheit (von denen es in Deutschland annähernd 700.000 geben wird) ist ihre eigene Legislative und wählt ihre eigene Exekutive. Das kann zwar durchaus funktionieren, ist aber sehr anders als das, woran wir gewöhnt sind. Außerdem könnte man in diesem System kaum eine föderale Struktur mit unterschiedlich großen Ländern abbilden. Auch die politische Bühne der Parlamente mit ihren Debatten und ihrer Entscheidungsfindung fehlte weitgehend. Das sorgte zwar für eine strikte Sachlichkeit in der Staatsführung, wäre aber suboptimal, wenn grundsätzliche politische Änderungen des Gesamtsystems diskutiert und erarbeitet werden müssen.
Deswegen möchte ich vorschlagen, dass die Struktur auf der vorletzten Ebene in jeder föderalen Einheit (die Bundesländer in Deutschland) aufhört. Diese vorletzte Ebene wählt aus ihren Mitgliedern in einer direkten Wahl das Landesparlament (Landtag in Deutschland). Das nationale Parlament wird zeitversetzt (nachdem sich die Landesparlamentarier bei ihrer Arbeit ausreichend kennengelernt haben) von allen Landesparlamentariern aus ihren Mitgliedern in einer direkten Wahl gewählt, und zwar im Verhältnis zu den Bevölkerungszahlen. Der Bundestag wählt aus seinen Mitgliedern die einzelnen Regierungsmitglieder.
Der entscheidende Unterschied zu den heutigen Parlamenten ist, dass ihre Mitglieder basisdemokratisch in einem mehrstufigen Verfahren gewählt werden und nicht aufgrund der Nominierung durch politische Parteien. Die Parteien spielen in dem neuen System eine andere Rolle. Anstelle Macht auszuüben oder anzustreben, bieten sie eine Bühne und eine Organisationsstruktur für Menschen, die wegen ihrer politischen Überzeugungen zusammenkommen. Damit werden sie tendenziell ein klares Profil haben und dadurch in der Lage sein, einen wichtigeren Beitrag bei der Suche nach den besten Lösungen – nicht nur für die Gegenwart, sondern auch für die Zukunft der Gesellschaft und des Staates – zu leisten.
Aus der Tatsache, dass in dem im Buch „Redesigning Civilization“ beschriebenen Entwurf der Wirtschaft nicht der Konsum und die Einkommen besteuern werden sollen, resultiert, dass die Steuern nicht vor Ort auf der untersten Ebene eingezogen werden, um das Geld anschließend nach Bedarf an die höheren Ebenen zu zahlen. Ein beträchtlicher Teil des vom Staat gesammelten Geldes muss also von oben nach unten verteilt werden. Anschließend können die lokalen Einheiten aber (wie im Model von Ackoff und Rovin) frei über die Verwendung entscheiden und bewusst einige ihrer Aufgaben auf die höhere Ebene delegieren oder sich zu ihrer Erfüllung mit anderen Einheiten zusammentun.
Weil ihre Budgets begrenzt sind (anders als der Haushalt des Staates im heutigen System, der fehlendes Geld einfach erzeugen kann), werden sie mit ihren Finanzmitteln achtsam wirtschaften. Das wird automatisch Effizienz und gesunde Konkurrenz der Dienstleistungsanbieter hervorbringen und der Entstehung von Monopolen oder ineffektiven staatlichen Unternehmen vorbeugen. Den anderen Teil der Steuereinnahmen soll der Staat für die Erfüllung von Pflichten verwenden, die ihm mehrheitlich von der Gesellschaft (konkret vom Parlament) übertragen wurden, wie den Betrieb von nationaler Infrastruktur, Verteidigung oder Bildung.
Ein System, in dem einerseits die Strukturen der Demokratie von unten und andererseits die Landesparlamente und der Bundestag koexistieren, bedingt die Notwendigkeit, die Zuständigkeiten der Parlamente festzulegen. Sie dürfen nur über Sachverhalte, die alle ihnen zugehörenden Einheiten betreffen, entscheiden. So könnten beispielsweise die grundsätzlichen Inhalte der Bildung national entschieden werden, die Organisation und der Betrieb der Schulen in der lokalen Zuständigkeit bleiben.
Welche Befugnisse ein Parlament (zusätzlich zu den bereits von den Einheiten der vorletzten Ebene übertragenen) bekommt, soll es mit einer Zweidrittelmehrheit entscheiden dürfen. Diese Verlagerung der Zuständigkeit muss aber behutsam vorgenommen werden, um nicht erneut zu einer Machtausübung von oben zu verwuchern. Weil jedoch alle Parlamentarier in einem basisdemokratischen Prozess aus den Mitgliedern der Einheiten der Demokratie von unten gewählt werden (und auch abgewählt werden dürfen), ist hier kein Missbrauch zu erwarten.
Die Demokratie von unten führt zu einer „Vergesellschaftlichung“ der Verantwortung, der gemeinschaftlichen Aufgaben und der Ressourcen. Nur so kann man von der „Herrschaft des Volkes“ sprechen.
Meine Neigung zur pragmatischen Herangehensweise veranlasst mich außerdem dazu, Regeln und Mechanismen vorzuschlagen, die Ausnahmen in der totalen Freiheit der Grundeinheiten zulassen. Ich denke zum Beispiel an die Möglichkeit, dass die Gegner der Demokratie sich gezielt in einer Region niederlassen, um den Staat zu umgehen. Die Hürden für solche Ausnahmen müssen aber hoch sein und ihre Anwendung streng kontrolliert werden.
Da es sich um eine grundsätzliche Umgestaltung der Demokratie und des Staates handelt, wird sie erst dann gelingen können, wenn die gesellschaftlichen Kräfte des Wandels tonangebend in der Gesellschaft geworden sind. Vielleicht wird der Umbau des Staates sogar schwieriger durchzusetzen sein als der Umbau der Wirtschaft. Auch Reformparteien, wenn sie innerhalb eines bestehenden politischen Systems an die Macht gekommen sind, verspüren plötzlich eine Zuneigung zu diesem System. Wenn sie die Demokratie von unten einführen, müssen sie freiwillig ihre Macht abgeben. Das fällt schwer.
Gelingen wird das nur, wenn diese Reformparteien wirklich nur die Speerspitze einer breiten und dynamischen gesellschaftlichen Bewegung sind. Dann wird das die Entscheidung der Menschen, nicht der Partei sein. Auch hier zeigt es sich, dass der Umbau auf eine aktive Gesellschaft, auf eine breite gesellschaftliche Bewegung für den Wandel angewiesen ist.
Fassen wir die Eckpunkte der Demokratie von unten zusammen: Die Entscheidungsmacht (auch über die Ausgaben) liegt beim Volk selbst, das lokale Einheiten bildet. Die leitenden Personen dieser Einheit begründen eine lokale Einheit der nächsthöheren Ebene und so weiter. Die Leiter nehmen an den Sitzungen der Einheiten der nächsthöheren und der nächstniedrigeren Ebene teil. Dabei interagieren sie mit den Leitern von fünf verschiedenen Ebenen und mit ihren lokalen „Nachbarn“. Diese Interaktionen erleichtern die Koordinierung und Entscheidungsfindung im gesamten System. Die übergeordneten Einheiten dürfen nur dann tätig werden, wenn sie von den ihnen angehörenden Einheiten dazu ermächtigt wurden. Alle Macht und Ressourcen fließen in diesem System von unten nach oben.
Diese Struktur hört auf der vorletzten Ebene in den Bundesländern auf. Diese vorletzte Ebene wählt aus ihren Mitgliedern in einer direkten Wahl den Landtag. Der Bundestag wird anschließend von allen Landesparlamentariern aus ihren Mitgliedern in einer direkten Wahl gewählt, und zwar im Verhältnis zu den Bevölkerungszahlen. Die Parlamente entscheiden mit einer Zweidrittelmehrheit darüber, welche Befugnisse sie zusätzlich bekommen. Der Bundestag wählt aus seinen Mitgliedern die einzelnen Regierungsmitglieder.
Wie definiert man also eine konsequente Basisdemokratie, eine „Demokratie von unten“? Es ist ein Staatssystem, bei dem die Entscheidungsmacht und die Ressourcen bei den Bürgern liegen, die zusammenkommen, um alle sie betreffenden Entscheidungen zu treffen. Sie können entscheiden, bestimmte Aufgaben und das mit ihrer Erfüllung verbundene Geld nach oben zu delegieren. Dieses politische System fördert Verantwortung für die Gemeinschaft, Zusammenarbeit in der Gesellschaft und sorgt für effektive Staatsführung und Sparsamkeit.
Was ist politischer Idealismus?
Ich höre schon Menschen sagen, dass ein solcher Umbau unserer Demokratie unrealistisch ist. Unrealistisch ist nur das, was mit der Realität nicht vereinbar ist. Wenn Sie nur die CDU, SPD und die anderen Parteien, wenn Sie nur ein System, in dem Parteikandidaten Gesetze beschließen und Regierungen stellen, als realistisch betrachten, ist die Demokratie von unten natürlich unrealistisch. Dann aber sprechen Sie uns, der deutschen Gesellschaft, jede Möglichkeit ab, überhaupt etwas an unserem politischen System zu verändern. Das ist keine demokratische Grundeinstellung.
Für mich gibt es eine grundlegendere Realität als die politischen Parteien. Es sind wir, die Menschen, das Volk, also diejenigen, denen die Demokratie und der Staat eigentlich gehören. Eine Gegebenheit ist außerdem, dass unser derzeitiges politisches System uns, den Menschen, dem Volk nicht mehr gut dient. Wir fühlen uns (siehe Umfragen) von der so gewählten Regierung nicht adäquat vertreten. Wir sehen die gewaltigen Probleme, die im bisherigen System gewachsen sind, und stellen fest, dass unsere Regierungen sie nicht lösen. Und wir trauen ihnen nicht mehr zu, dass sie sie lösen werden. Das ist die Realität, von der wir bei der politischen Diskussion ausgehen müssen.
Die einzige konstruktive Lösung dieses Problems ist, die Demokratie in die eigenen Hände zu nehmen. Das oben beschriebene demokratische System zeigt uns auf, wie man den Staat und die Regierung von unten, basisdemokratisch, aufbauen kann. Dieser Staat wäre effektiver bei der Lösung unserer lokalen, regionalen und nationalen Probleme, effizienter bei der Nutzung der uns zur Verfügung stehenden Mittel und konsequenter und pragmatischer in seiner Arbeit. Und es wäre wahrlich unser Staat, für den wir uns verantwortlich fühlten.
Idealismus bedeutet, Ideale zu haben. Weil wir sowieso dringend eine Zukunftsvision für unsere Gesellschaft, unser Land, sogar für unsere gesamte Zivilisation brauchen, brauchen wir auch politischen Idealismus.
Das, was gemeinhin als politischer Realismus betrachtet wird, bedeutet nichts anderes, als weiterhin an dem Spiel der Macht, Selbstsucht, Gier und Manipulation teilzunehmen. Ich will kein solcher Realist sein.
Zu glauben, dass sich die Mechanismen der Macht im Rahmen des derzeitigen politischen Systems ändern, ist wiederum Träumerei. Die Probleme gegenwärtiger Welt sind zu gewaltig, um weiterhin Träume zu träumen. Deswegen brauchen wir dringend politischen Idealismus. Idealismus bedeutet, Ideale zu haben, etwas Besseres für alle anzustreben, und zwar nicht aus Selbstsucht, sondern aus Menschenliebe. Das fortgesetzte Verwalten der real existierenden Gegenwart entspricht nicht mehr dem Gebot der Stunde. Wir müssen anfangen, die Zukunft zu gestalten. Dafür sind Ideale notwendig. Dafür brauchen wir Idealisten.
Welche Ideale wären dem Gebot der Stunde angemessen? Diese Frage können wir nur in einem gesellschaftlichen Gespräch beantworten. Vorlagen für den Anfang gibt es genug, von den Stellungnahmen der Kirchen bis zu den Zielen für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen. Sicher würden wir uns schnell auf Ziele wie Zusammenarbeit im Frieden, gegenseitige Unterstützung und Solidarität, Wohl des Individuums und der Gemeinschaft, Entfaltung des Menschen und der Kultur, Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Reife des gesellschaftlichen Miteinanders einigen können.
Denken Sie vielleicht gerade, dass es keine neuen Werte, Ziele und Ideale sind? Natürlich nicht. Es sind und waren schon immer unsere Ziele. Das Problem ist nur, dass es nicht die Ziele sind, die unser Staat verfolgt. Seine Prioritäten sind zum Beispiel das wirtschaftliche Wachstum und der Anstieg der Finanzmärkte. Seine Regierung ist mit Entscheidungen beschäftigt, bei denen Milliarden über unsere Köpfe hinweg geschoben werden, die uns nichts als Schulden hinterlassen – Schulden, die wir zahlen werden. An den vielen Tausend kleinen Entscheidungen, bei denen mit wenig Geld etwas Gutes, Wichtiges für konkrete Gemeinschaften, Gemeinden oder Menschen erreicht werden könnte, hat der Staat wenig Interesse. Damit geht auch wenig Geld einher. Und das wichtigste Ziel seiner politischen Entscheider ist, bei der nächsten Wahl gut abzuschneiden. Es sind nicht unsere Prioritäten und Ziele.
Politischer Idealismus bedeutet also, ein Staatssystem anzustreben, das Gemeinschaften hilft, sich effektiv um ihre Belange zu kümmern, das der Gesellschaft und nicht den Superreichen, den Machthabern oder einzelnen Interessengruppen dient. Er bedeutet, ein Machtgefüge zu schaffen, das das Gute in der Gesellschaft und das Humane in den Menschen fördert und die Selbstsucht, Gier und das Herdenverhalten schwächt. Politischer Idealismus als Grundeinstellung ist zwar an sich noch kein politisches Programm, wohl aber eine unerlässliche Voraussetzung dafür. Deswegen bekenne ich mich gerne dazu.
Mein Ideal für Deutschland wäre ein politisches und wirtschaftliches System, das die Verantwortung für unser gemeinsames Zuhause bewusst fördert, der Natur und Kultur Raum für Wachstum absichtsvoll schafft, die Gemeinschaften, wenn sie etwas Gutes für das Gemeinwohl tun, systematisch unterstützt und den Menschen aktiv hilft, in ihrer Menschlichkeit zu wachsen.
Ich bin ein politischer Idealist. Und Sie?
Alan P. Stern ist ein Systemdenker und praktischer Philosoph. Akademisch in naturwissenschaftlichen wie auch in praktisch-wirtschaftlichen Fächern ausgebildet, arbeitete er als Manager und Unternehmensberater.
Im Jahr 2019 erschien sein Buch „Redesigning Civilization; wie erschaffen wir die westliche Zivilisation neu?“
Weitere Artikel zum Thema Demokratie:
Comments