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Alles ist Gott – Advaita Vedanta

Aktualisiert: 20. Jan.


Die Weltsicht des Advaita Vedanta bietet uns die Chance, in der Zukunft im Gleichgewicht mit der Natur und uns selbst zu leben.


Galaxien im Weltall

Dieser Text ist im Sonderheft 1/22 „Gott“ der Zeitschrift „Visionen“ erschienen.



Haben Sie schon auf den nächtlichen Himmel geschaut an einem Ort, wo kein künstliches Licht die Klarheit der Luft verschmutzt? Klar, haben Sie. In meiner Jugend hatte ich das Glück, im Sommer in der Natur zu übernachten, Meilen von der nächsten Siedlung entfernt. Ich weiß nicht mehr genau, mit wem ich unterwegs war. Auch über die Routen unserer Wanderungen bin ich mir nicht mehr sicher. Woran sich aber mein Herz sehr gut erinnern kann, ist der atemberaubende Anblick des nächtlichen Firmaments. Das Gefühl lässt sich nicht in Worte fassen. Worte begrenzen. Das ist auch ihre Aufgabe: Sie beschreiben Objekte, Objekte unserer Sinne, Objekte unserer Gedanken. Dieses Gefühl war aber unbegrenzt. Es erfüllte meine ganze Seele und in der Seele haben Worte nichts zu suchen. Die Philosophen erfanden deswegen ein Wort, das genau auf der Grenze zu Unendlichkeit anhält und sich dann der Stille aussetzt: Transzendenz.


Ich dachte damals, dass es die Unendlichkeit des Universums war, was mich so überwältigte. Ja, der unvorstellbar große Raum mit Abermilliarden von Galaxien zeigt uns, wie winzig wir sind, liefert den richtigen Maßstab für unsere kleinen Ideen und Wünsche. Aber heute weiß ich, dass das nur die halbe Wahrheit war. Diese Grenze, auf der die Transzendenz anfängt, markiert nicht nur den Übergang zwischen dem Ich und dem Kosmos. Es gibt nämlich nicht ein Universum, sondern zwei. Außer dem Universum außen gibt es in jeder und in jedem von uns ein inneres Universum. Die Transzendenz fängt dort an, wo sich die beiden treffen: im menschlichen Geist, in Gedanken und Gefühlen. Wenn wir uns jedoch auf die Stille in unserer Seele einlassen, verschmelzen die beiden Universen, das äußere und das innere, zu einer Unendlichkeit. Und das ist, wo Gott wohnt.


Das innere Universum


Das Universum im Inneren ist erforschbar. Es unterliegt bestimmten Gesetzen, die nicht weniger zwingend sind als die Gesetze der äußeren Natur. Wir im Westen haben nur nicht gelernt, uns in diesem inneren Universum sicher zu bewegen. Wir haben ihm sogar die Existenz abgesprochen. Im Gegenteil dazu sind alle alten asiatischen Kulturen und alle indigenen Völker dort entweder zu Hause oder halten die Tür dorthin weit offen. Eine von ihnen, die älteste noch lebende Kultur, hat sich sogar gänzlich der Erforschung des inneren Universums gewidmet: die Kultur des indischen Subkontinents.


Die vedische Kultur Indiens ist extrem vielfältig und komplex. Das ist auch der Grund, warum sie im Westen so wenig verstanden wurde. Man war mit unzähligen Gottheiten konfrontiert – manche von ihnen erschienen sogar gewalttätig. Man sah abgemagerte, obdachlose, nackte Yogis durch die Straßen gehen und dachte, dass diese Religion primitiv sein muss. Die dortige Kultur war eben in vielen Bereichen das genaue Gegenteil unserer westlichen Kultur und der Hinduismus in seiner äußeren Erscheinung schien das genaue Gegenteil des christlichen Glaubens zu sein. Man steckte beide, die Kultur und die Religion, in eine Schublade mit dem Etikett „rückständig, polytheistisch“ und hat sich mit ihnen nicht weiter beschäftigt.


In Wirklichkeit glauben die Inder an einen Gott. Die vielen Gottheiten sind lediglich der Ausdruck einer unglaublich reichen und um viele Jahrtausende älteren religiösen Tradition als unsere eigene. Sie erfüllen eine Funktion: Sie sind Brücken, über die man einfach und mit Freude in Richtung des eigentlich Göttlichen gehen kann. Dieses Göttliche (Brahman, vom Genus neutral) ist kein alter Mann, der hinter den Kulissen der Welt die Fäden zieht, sondern ein allumfassendes Sein und eine unendliche Glückseligkeit, die das Ziel des menschlichen Lebens ist. Es ist die Erklärung der Welt und ihr Ziel gleichzeitig.


Außerdem ist Brahman nicht etwas, woran man glauben soll, und die Religion passiert nicht in den Tempeln. Gott ist erfahrbar, sogar konkreter erfahrbar, als wenn man einen Baum berührt oder sein Kind in den Armen wiegt. Diese Erfahrung lässt sich in einem systematischen und bewussten Prozess herbeiführen, den man Yoga nennt. Der Yoga ist der eigentliche Grund, warum die Vorstellung von Gott in Indien so viel weiter gegangen ist als im Westen. Dort musste man nicht über Gott spekulieren. Man kannte Ihn aus Erfahrung.


Philosophie des Vedanta


Swami Vivekananda gab eine wunderschöne Definition Gottes und des Menschen: Der Mensch ist ein unendlicher Kreis, dessen Rand nirgends ist und dessen Zentrum sich an einem Punkt befindet. Und Gott ist ein unendlicher Kreis, dessen Rand nirgends und dessen Zentrum überall ist. Die Bedeutung dieser beiden Sätze wird erst im Kontext der Vedanta-Philosophie deutlich, die ihren Namen dem Vedanta verdankt, dem Teil der Veden, der sich mit Metaphysik, Kosmologie, Psychologie, Gott und Yoga befasst. Diese sehr alten Texte wurden zuerst einige Zeit vor unserer Zeitrechnung von Vyasa unter dem Aspekt der Nichtdualität zwischen Gott und Schöpfung analysiert und danach (wahrscheinlich erst nach Christus – das lässt sich heute nicht mit Sicherheit sagen) von Adi Shankara zu einem kohärenten, nichtdualistischen philosophischen System des Advaita Vedanta verdichtet.