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Therapie für den Weltfrieden


Vor einigen Wochen habe ich einen hervorragenden Kanal auf YouTube entdeckt: Neutrality Studies von Pascal Lottaz. Neulich erschien dort ein Interview mit Jan Oberg – zwei brillante europäische Friedensforscher, die darüber nachdenken, wie wir als westliche Gemeinschaft den von unseren Politikern und Medien ersonnenen Kriegen entkommen können.

 

Herr Dr. Lottaz verglich in diesem Gespräch (der Link führt Sie zu YouTube) Kriege mit einer Krankheit, mit Krebs im Körper der Menschheit, und fragte, welche „Behandlung“ das zerstörerische Wachstum dieses Geschwürs umkehren könne. Wie kann der Krebs der Gewalt und des Hasses geheilt werden? Dieser Artikel ist ein Versuch, auf diese Frage zu antworten.


Sonnenaufgang, Symbol für Weltfrieden



Gesunder Körper der Menschheit


Die Metapher überträgt den menschlichen Körper auf ganze Länder und sogar die Zivilisation als Ganzes. Folglich müssen wir nach der Antwort in der Gesellschaft, in der Zivilisation suchen. Bevor wir damit beginnen, lohnt es sich jedoch, die Metapher zu Ende zu denken.

 

Der Mensch ist mehr als sein Körper; er ist auch Geist – mit all seinem Denken, Fühlen, seinen Idealen, Werten und Sehnsüchten. Jeder, der sich tief genug in sein inneres Universum begeben hat, weiß außerdem, dass es in uns auch etwas gibt, das den Geist transzendiert und das wir traditionell als Seele bezeichnen. In ihr wurzelt das Wertvollste im Menschen: sein Gewissen, seine Sehnsucht nach Schönheit und Gerechtigkeit, seine Güte und sein Mitgefühl.

 

Die ganzheitliche Medizin lehrt uns: Die Gesundheit des Körpers ist untrennbar mit dem Wohlbefinden des Geistes verbunden, und die meisten Krankheiten haben ihre tiefere Ursache in der Psyche. Ich füge dem hinzu, dass ein gesunder Geist nur auf dem Boden der Seele gedeihen kann, wenn dieser Boden gut kultiviert wird. Wenn wir also fragen, wie wir eine gesunde Zivilisation erschaffen – wie die menschliche Gemeinschaft heil bleibt und gesund wächst –, dann dürfen wir nicht nur auf die materiellen, handfesten Aspekte schauen. Wir müssen uns mit dem Geist und der Seele der Gesellschaft befassen. Der Geist einer Gesellschaft ist ihre Kultur. Und ihre Seele sind die Wurzeln der Güte und Milde, die Werte und Träume, die diese Gesellschaft weitgehend teilt, und die daraus erwachsende Schönheit der zwischenmenschlichen Interaktionen, was wir (je nach Kontext) als reife Humanität oder reife Spiritualität bezeichnen werden. Der Körper der Gesellschaft schließlich ist das greifbare Gerüst: vor allem Wirtschaft, Politik und all die Regeln, die ihr Handeln, Leben und den Austausch von Leistungen bestimmen.

 

Nun zurück zu der Frage von Pascal Lottaz. Die Kriege gab es schon immer und überall in der Welt. Diese Krankheit ist also fortgeschritten und die Prognose düster. Eine konventionelle medizinische Behandlung wird nicht helfen. Auf das Zusammenleben der Völker übertragen heißt das, dass das Handfeste, die Verträge oder die UN-Charta allein, uns keinen Weltfrieden bringen werden. Wir müssen tiefer ansetzen. Etwas in unseren Kulturen, Religionen, Überzeugungen und Sehnsüchten macht die Menschheit krank. Gesunde Seele bringt gesunden Geist hervor, und der gesunde Geist der menschlichen Gemeinschaft wird den Weltfrieden hervorbringen. Das ist die kausale Kette, die wir betrachten müssen.


Was stimmt mit unserer Kultur nicht?


Die Kultur ist der Fluss, an dessen Ufern die Zivilisation wächst. Er ist in Bewegung und trotzdem bietet er den Menschen eine Bezugslinie, die der Entwicklung jeder Gesellschaft eine Richtung und Kontinuität gibt.

 

Das kapitalistische Wirtschaftssystem hat einen Prozess in Gang gesetzt, der zur Eingliederung der Kultur in den Mechanismus der Kapitalvermehrung führte. In der Zwischenzeit ist Kapitalismus zum absoluten Monarchen der Menschheit aufgestiegen, zum König Midas, der alles, was er anfasst, in Geld verwandelt. Nahezu die gesamte Alltagskultur und weite Teile der Hochkultur, von Büchern bis zur Wissenschaft, stehen direkt oder indirekt im Dienst der Wirtschaft und ihrer Finanzmärkte. Die Medien sind dabei schlicht zu einem Bestandteil des allgegenwärtigen Kaufens und Verkaufens geworden. Was einst dem malerischen Mäander eines Flusses glich, ist heute eine kanalisierte Abfolge von Stauseen, deren Ufer mit Yachthäfen und Freizeitparks gesäumt sind.

 

Diese Kultur gibt uns weiterhin die Richtung vor – und während wir ihr folgen, können die Reichen ihre Milliarden vermehren. Sie wird dabei immer seichter, grober, hässlicher und materialistischer. Sie formt heranwachsende Menschen zu willigen Konsumenten, zerstreuten Hedonisten, zu Monaden in einem gesellschaftlichen Teig, der sich nach Wunsch formen lässt.

 

Betrifft dieser Prozess alle Kulturen? Praktisch alle, wobei sich unsere westliche dabei eindeutig hervortut. Dieser Prozess gleicht die Entwicklung aller Kulturen zunehmend an, weil wir alle unser Denken an den Takt und die Banalität dessen, was uns über unsere großen und kleinen Computer erreicht, richten. Als ich in den 60er-, 70er-, 80er-Jahren in die Kultur heranwuchs, las man Bücher, diskutierte über anspruchsvolle Filme, die entweder Kunstwerke waren oder tief menschliche, sogar philosophische Themen behandelten. Die heute Heranwachsenden werden indessen von den omnipräsenten Medien zu einer Art kulturellen Analphabeten herangezüchtet. Und das nächste Video springt bereits ins Auge.


Wir werden unbemerkt zu kulturellen Analphabeten erzogen – ganz im Sinne der Absatzmärkte und Machteliten.

Das Zentrum des kapitalistischen Wirtschaftssystems und der westlichen Kultur verlagerte sich im Laufe des 20. Jahrhunderts von Europa in die USA. Aus diesem Grund eignen sich die USA besonders gut, um den Prozess der Kommerzialisierung und zunehmenden Verflachung der Alltagskultur sowie der gesellschaftlichen Kommunikation zu studieren.

 

Die USA entwickelten sich nach dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere nach 1990 zu einer hegemonialen Macht. Politisch tritt der Hegemon wie ein Alleinherrscher auf, der kein unabhängiges Handeln anderer akzeptiert. Er bedient sich politischer, militärischer und wirtschaftlicher Mittel, um andere Länder seinem Willen zu unterwerfen. Diese Politik hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die nach den traumatischen Erfahrungen der Weltkriege aufgekommene Stimmung des „Nie wieder Krieg“ nicht in eine dauerhafte friedliche Kooperation münden konnte. Das selbstherrliche Gebaren der aktuellen Administration in Washington D. C. wurde derart offensichtlich, dass die Weltgemeinschaft nicht länger gewillt ist, es hinzunehmen. Für den Krieg oder Frieden birgt diese Veränderung Chancen und Gefahren gleichermaßen.

 

Unterdessen hat sich das US-amerikanische Finanzsystem seit Ende der 1980er-Jahre derart aufgebläht, dass eine Implosion unausweichlich erscheint. Da der Rest der Welt diese Gefahr erkennt und wirtschaftlich an Stärke gewinnt, will er sich von der Dominanz des US-Dollars und des damit verbundenen globalen Finanzsystems emanzipieren. Die USA reagieren hierauf mit verstärkten Mitteln der Erpressung, mit Sanktionen, der Förderung von Instabilität und sogar Krieg, was den Krebs der Gewalt weiter wuchern lässt. Wird die bevorstehende Implosion des kapitalistischen Zentrums unserer Kultur eine neue Richtung weisen?


Die Politik der USA nach dem Ende des II. Weltkrieges hat eine konstruktive Zusammenarbeit der Völker an einer fairen Sicherheitsarchitektur verhindert.

Woran also krankt unsere Kultur? An ihrer Durchdringung durch das Kommerzielle, das sie seicht und manipulierbar macht. Seichte Kultur formt seichte Menschen, die sich leicht lenken und sogar in den Krieg führen lassen. Ein friedliches, respektvolles Miteinander hingegen braucht reife, selbstständig und differenziert denkende Menschen. Eine friedliche Welt gedeiht nur auf einem reifen kulturellen Nährboden.

 

Hinzu kommt ein zweiter, ebenso fundamentaler Fehler der westlichen Kultur: der Hochmut. Seinen Ursprung hat er im Überlegenheitsdenken der antiken Griechen und Römer. Das Christentum in seiner institutionalisierten Form lieferte die absolute Rechtfertigung für diesen Anspruch. Die jahrhundertelange wissenschaftliche, technologische, wirtschaftliche und militärische Überlegenheit der westlichen Länder schien nicht nur die zivilisatorische, sondern auch die kulturelle Superiorität Europas und Nordamerikas zu bestätigen. Diese Überlegenheit brachte den westlichen Nationen einen beispiellosen Wohlstand und großen Teilen der Menschheit unermessliches Leid.

 

Hochmut führt zu Arroganz, und Arroganz macht blind – auch moralisch. Unsere Vorfahren haben die Völker Amerikas, Afrikas, Australiens und Asiens ausgelöscht oder dezimiert mit dem Gefühl, dass dies in Ordnung ist. Sie haben diese Menschen als minderwertig betrachtet. Lange dachte ich, dass diese Denkweise zumindest in Deutschland der Vergangenheit angehört. In meinem persönlichen Umfeld begegnete ich nie Menschen, die andere Kulturen geringschätzten. Eigentlich ist meine Erfahrung mit Kollegen, Nachbarn, Bekannten, Fremden, die ich persönlich treffe, immer noch die gleiche.

 

Doch seit Jahren beobachte ich mit Sorge, wie genau dieser Hochmut und diese Arroganz in den Reihen der Politiker um sich greifen. Die Kriege, die wir führen, die Verbrechen, die wir unterstützen, die Äußerungen und Handlungen unserer Regierung sowie das Agieren unserer im Ausland tätigen Institutionen – all dies offenbart seit etwa der Jahrtausendwende eine immer hässlichere Hybris. Etwas hat sich grundsätzlich geändert. Ich führe diese Wende vor allem auf zwei Faktoren zurück: erstens auf den wachsenden Einfluss des US-amerikanischen Machtzentrums auf die politischen, wissenschaftlichen und kulturellen Eliten des Westens. Zweitens sehe ich eine Ursache in einem systemischen Defekt unserer Demokratie, die Regierungen aus angepassten Parteifunktionären rekrutiert. In ihrem Denken, in ihren Wertvorstellungen vertreten sie nicht mehr das Denken und die Werte der Deutschen.


Hochmut führt zu Unterdrückung und Krieg. Er ist eine Krankheit, und diese Krankheit zerstört die westliche Kultur.

Zwar ist ein gewisses Maß an Stolz und Selbstüberzeugung allen Kulturen eigen, doch nicht alle haben sie in Hochmut verwandelt. Das ausgeprägte Selbstwertgefühl alter Hochkulturen wie denen Chinas oder Indiens führte historisch betrachtet beispielsweise nicht zu der Haltung, andere Völker pauschal als minderwertig abzutun. Die indische Kultur war bis auf einige Auswüchse religiösen Fanatismus und gesellschaftlicher Ausgrenzung in ihrer Grundhaltung wertschätzend gegenüber Fremden. Das Reich der Mitte hat sich zwar als das überragende kulturelle Zentrum der Welt betrachtet, verschloss sich aber nicht vor den Fremden und versuchte nicht, andere Länder zu unterwerfen.

 

Der Hochmut konnte sich in der westlichen Kultur entfalten, weil ihr ein belastbares spirituelles Fundament fehlte, das viele östliche Kulturen hatten. Eine reife Spiritualität fördert eine Haltung der Verbundenheit und damit die Einsicht in die grundlegende Gleichwertigkeit allen Lebens. Sie führt zu der Erkenntnis, dass die vielfältigen Erscheinungsformen der Welt Ausdruck eines unteilbaren, geheimnisvollen Ganzen sind. Diese Sichtweise verleiht allem Leben einen intrinsischen Wert, einen „heiligen“ Charakter und macht es schützenswert. Eine Kultur, die von einem solchen Weltverständnis durchdrungen ist, wird unweigerlich in Richtung einer humanen Reife gelenkt. In einem derart geweiteten Bewusstsein, das die Einheit in der Vielfalt erkennt, findet die Idee von „minderwertigen“ Menschen oder Völkern tatsächlich keinen Nährboden mehr.

 

Je oberflächlicher und gröber unsere westliche Kultur wird, desto deutlicher tritt ihr inhärenter Hochmut zutage. Dieser Zug der Überheblichkeit wird bei den Regierenden noch zusätzlich durch die systemimmanenten Dynamiken der politischen Machtausübung und des globalen Wirtschafts- und Finanzsystems verstärkt und geradezu belohnt. In der Außenpolitik der USA und vieler europäischer Länder hat diese Hybris inzwischen bedenkliche, ja teils pathologische Züge angenommen.


Was stimmt mit unserer Spiritualität nicht?


Das Christentum ist in die Falle der Macht geraten. Es entsprang, wie alle Religionen, der dem Menschen innewohnenden Suche nach Sinn und Güte. Da es sich jedoch auf eine singuläre Offenbarung gründete, sah es seine Mission darin, alle Andersdenkenden zu dieser Singularität zu bekehren. Diese Zielsetzung wurde noch dadurch verstärkt, dass das Heil an einen jenseitigen Ort gebunden war, was die Aufgabe der Bekehrung so dringend machte – die Chance, in den Himmel zu kommen, war ebenfalls singulär. Daraus entstand die Bereitschaft, den Andersgläubigen notfalls mit Gewalt den wahren Glauben zu bringen. Für seine Mission benötigte es effiziente Strukturen und Ressourcen. So entstanden eine zentralistische Kirche sowie das Streben nach politischem Einfluss und Reichtum. Im Ergebnis führte die ursprüngliche Suche der Christen nach Sinn und Güte nicht zu weniger, sondern zu mehr Gewalt und Kriegen.


Religion kann eine reife Humanität begründen und fördern, wenn sie konsequent um das moralische und spirituelle Wachstum des Menschen aufgebaut ist. Das Christentum hat sich im Mittelalter leider von diesem Ideal entfernt.

Dieser Weg einer Religion ist jedoch nicht zwingend. Der Buddhismus etwa setzte stets auf die humane Entwicklung des Individuums im Diesseits. Zwar missionierte auch er, doch strikt ohne Zwang und Gewalt. Sein primäres Ziel war stets die innere Erleuchtung, nicht institutionelle Macht. Alle Religionen des indischen Subkontinents teilten dieses Fundament: Ihr Sinn und Zweck war das spirituelle und humane Wachstum des Menschen. Der Hinduismus vereint zwar eine enorme Vielfalt an Strömungen – inklusive ritualistischem Formalismus und Jenseitsvorstellungen –, doch sein Kern ist spirituell: Sein Sinn und Zweck bleibt das humane Wachstum des Individuums, und zwar in dieser Welt. Ebenso verzichteten die Religionen Chinas und Japans (wie Daoismus, Konfuzianismus und Shintō) weitgehend auf Missionierung und bildeten keine machtzentrierten Kirchen aus. Im Mittelpunkt stand stets die ethische und humane Vervollkommnung des Einzelnen und damit, indirekt, der Gesellschaft.

 

An dieser Stelle muss ich uns Westlern erklären, was Spiritualität eigentlich ist. Sie ist die selbst auferlegte und selbstverantwortlich umgesetzte Arbeit des Individuums an seiner Menschlichkeit – ein Prozess, der unsichtbar im inneren Universum des Einzelnen stattfindet. Diese Anstrengung entfaltet in seinem Geist die Perfektion, die seiner Seele bereits immanent ist. Alles Körperliche, also auch der Geist, ist in seinem Ursprung animalisch und muss so weit „gereinigt“ und sublimiert werden, dass es das ebenfalls im Menschen vorhandene Reine, das tief Spirituelle aufblühen lassen kann. Das ist die eigentliche Aufgabe des menschlichen Lebens.

 

Zwar findet sich diese Spiritualität auch im Islam und (etwas seltener) im Christentum und Judentum, doch führte sie dort stets ein Schattendasein. Den Kern dieser Offenbarungsreligionen bildete der Glaube an den Wortlaut der Heiligen Schriften und die Befolgung der von religiösen Autoritäten festgelegten Regeln. Abweichende Überzeugungen und Praktiken galten im Selbstverständnis dieser Religionen als Abkehr von Gott, der ja die höchste, unfehlbare Autorität ist. In diesem Spannungsfeld konnte eine reife Spiritualität nicht gedeihen. Als Resultat brachten die abrahamitischen Religionen in der Geschichte der Menschheit genauso viel Liebe wie Gewalt hervor.

 

Das westliche Menschenbild ist zwar vor allem das Resultat der griechischen Antike, aber auch dieser Auslegung des Christentums. In der Summe hat es unsere Kultur von reifer Spiritualität weggelenkt und sie stattdessen extrovertiert, utilitaristisch und materialistisch geprägt. Es ist daher kein Zufall, dass sowohl der Kolonialismus als auch der Kapitalismus im Westen entstanden. Und mit ihnen wurde der Krieg von einem Ausdruck der menschlichen Imperfektion, der Gier und des Machtgelüsts zu einem systematischen Attribut der Zivilisation selbst.

 

Diese beide Charakteristiken der westlichen Zivilisation – das unausgewogene Menschenbild und die Integration der Ausbeutung in das System der Wirtschaft – prägten entscheidend die Geschicke der Welt seit der Neuzeit. Genau aus diesem Grund ist ein radikales Umdenken im Westen und die Arbeit an einer tiefgreifenden Umgestaltung unserer Kultur so unerlässlich. Deswegen auch trägt der Westen eine größere historische Verantwortung für die Schaffung einer friedlichen Weltordnung als andere Teile der Welt. Zu dieser Verantwortung steht die aktuelle Politik der USA und der EU in einem zum Himmel schreienden Gegensatz.


Der Westen hat seit der Eroberung der Welt Unterdrückung und Gewalt als ein systemisches Attribut in seine Zivilisation eingebaut. Ohne eine bewusste Veränderung dieses Systems wird der Weltfrieden nie von Dauer sein können.

Die Grundüberzeugungen der Kultur bilden den Boden, auf dem sie wächst. Damit sich Gewaltlosigkeit als primäre menschliche Haltung entfalten kann, muss dieser Boden auch Schichten tiefer Humanität enthalten. In der westlichen Kultur waren diese nährenden Schichten stets zu dünn. Was wir gegenwärtig zusätzlich unserer Kultur antun, trägt ihren Boden weiter ab. Die Reizüberflutung, die Oberflächlichkeit der gesellschaftlichen Kommunikation, die Manipulation und das Geschrei der Medien sowie der Rückgang der Hochkultur, die ja tiefes Nachdenken und Introspektion erfordert, bewirken etwas Verheerendes: Die Menschen begeben sich immer seltener in die Stille ihres inneren Universums, wo diese Tiefe und Reife wohnen.


Die Wurzeln jeder Kultur liegen in der Reife oder Unreife der durch die Gesellschaft geteilten Humanität, in ihrer spirituellen Reife. Hier liegt eine große Schwäche der westlichen Kultur.

Reife Kultur


Wir haben unsere humanistischen Ideale durch Geld ersetzt und unsere innere Welt für die Wirtschaft und die Medien freigegeben. In der Welt des Geldes sind Komfort und Reichtum zum höchsten Lebensziel geworden. Das Umdenken, das wir heute vollbringen müssen, ist daher enorm: Wir brauchen eine neue Aufklärung. So wie uns die Aufklärung des 18. Jahrhunderts aus den Fesseln von Kirche und spekulativem Denken befreite, muss uns die Aufklärung des 21. Jahrhunderts von der Tyrannei des Spekulationskapitals und der materialistischen Nützlichkeitslogik befreien.

 

Seit Generationen stützt sich unser Wirtschaftssystem auf Prinzipien, die Eigenschaften wie Rücksichtslosigkeit, Gier, Selbstsucht und Täuschung belohnen. Diese Werte stehen im fundamentalen Widerspruch zu den Grundpfeilern einer gesunden und edlen Kultur: Empathie, Demut, Edelmut und Wahrhaftigkeit.

 

Da wirtschaftliche Interessen und monetärer Einfluss zunehmend unsere Kultur dominieren, gerät diese aus dem Gleichgewicht. Zwar sind Mitgefühl und Gewissen dem Menschen angeboren, doch werden sie in einem Umfeld, das ihr Gegenteil systematisch fördert und belohnt, verkümmern. Das Ergebnis ist eine Gesellschaft, die zwar regelkonform, aber ohne wertebasiertes Fundament handelt. Wir müssen unsere Kultur wieder mit ihren humanen Wurzeln verbinden.

 

Um zu wissen, was eine gesunde Kultur ist, brauchen wir nur auf die Leuchttürme unserer Philosophie, Literatur, Musik, bildenden Kunst zwischen der Renaissance und dem 20. Jahrhundert zu schauen und das sichten, was in den Hinterzimmern und im Untergrund der heutigen Kultur überlebt hat. Unser Augenmerk muss dabei stets auf ihren humanen Grundfesten liegen – wir müssen sie explizit benennen und offenlegen. Kant, Heine oder Beethoven sind mit diesen Grundfesten aufgewachsen – sie waren für sie selbstverständlich. Diese Selbstverständlichkeit ist uns heute weitgehend abhandengekommen. Wir müssen die Reife und die humane Tiefe unserer Kultur wiederfinden.

 

Der Verfall unserer Kultur wird noch dadurch beschleunigt, dass auch die Bildung sich den Anforderungen der Wirtschaft unterworfen hat. Werte und Wahrheit nützen der Wirtschaft nichts, sie benötigt das Wissen und das Können. Die Schulen und die Hochschulen bilden keine reifen, nach Sinn, Wahrheit und Schönheit suchenden Menschen, sie bereiten die Arbeitnehmer auf ihre zukünftigen Aufgaben vor. Diese aber werden die Kultur nicht weiterentwickeln, sondern lediglich das konsumieren, was ihnen in ihrer Freizeit angeboten wird. Auf diese Weise verschwindet der Gegensatz zwischen Wirtschaft und Kultur, indem die Kultur ihre Vitalität und ihre Seele verliert. So kann die Maschinerie der Geldvermehrung reibungsloser laufen.

 

Für eine reife Kultur brauchen wir eine Bildung, die andere Absichten hat. Ebenso müssen kulturelle Schöpfung und gesellschaftlicher Dialog von der Dominanz des Geldes befreit werden. Dafür muss sich die Gesellschaft vom Joch der Wirtschaft befreien. Die Produktion der Güter ist lediglich ein Aspekt ihrer Aufgabe. Sie muss sich nicht nur um ihren Körper, sondern auch um ihren Geist kümmern. Um den Geist sogar mehr, weil er für ihre Gesundheit wichtiger ist.


Wir haben als Zivilisation Geld zum wichtigsten Maßstab und ersten Zweck erhoben. Auf dieser Basis kann keine reife Kultur überleben.

Wenn wir heute unsere Kultur wiederaufbauen, muss die Gesellschaft dabei vor allem eines ins Zentrum stellen: die Genesung ihrer spirituellen Basis, die Reife ihrer Humanität. Das ist sowieso notwendig, weil es diesmal nicht nur um die kulturellen Eliten und das gebildete Bürgertum geht. In der egalitären und von den Medien überfluteten Gesellschaft von heute müssen die humanen Wurzeln der Kultur nicht nur deutlich stärker, sondern auch breiter wachsen.


Reife Humanität


Was die westliche Kultur heute am meisten braucht, sind Demut, den Respekt vor den Wundern des Menschen und der Natur und das Ethos der Verantwortung, die wir als Gemeinschaft und als Einzelne für unser moralisches, humanes Wachstum tragen.


Die Demut brauchen wir, weil sie der Gegenentwurf zum Hochmut ist. So wie die Überheblichkeit und Arroganz Menschen und Kulturen blind und gewaltbereit machen, ebnet die Demut den Weg zur Moral und Gewaltlosigkeit. Sie ist die Vorbedingung des Wachsens in Menschlichkeit – und übrigens auch der einzige Weg, die Realität annähernd so zu sehen, wie sie wirklich ist.

 

Wir im Westen haben die Demut nie gelernt. Für uns ist sie ein Ausdruck der Schwäche und Unterwerfung, etwas, was unsere Individualität einschränken würde. In vielen asiatischen Kulturen hat man einen grundlegend anderen Zugang dazu. Was beispielsweise in Indien darunter verstanden wird, hat etwas mit der Bereitschaft, zu lernen, mit der Offenheit für andere Menschen, mit der Anerkennung der Größe der Schöpfung und mit der Einsicht eigener Unzulänglichkeiten zu tun. Ein Sprichwort in Sanskrit bringt es auf den Punkt: „Ein mit Früchten beladener Baum verbeugt sich; ein dürrer Stock dagegen nie.“ Diese Form der Demut ist das Ergebnis innerer Reifung und die Voraussetzung für Frieden unter den Menschen. Sie bezeichnet denselben Zustand von Geist und Herz wie die Überwindung des Egoismus. Sie macht stark, ganz anders als der Hochmut.


Die wichtigste Lektion, die die westliche Kultur lernen muss, ist die Demut. Sie ist die Voraussetzung nicht nur für den Weltfrieden, sondern auch dafür, dass unsere Kultur wieder vital und attraktiv wird.

Es wird Zeit, dass wir unsere Menschlichkeit neu entdecken. Für die Wirtschaft, die den Ton in unseren Gesellschaften angibt, ist der Mensch lediglich ein Bündel aus Wünschen und Begierden. Auch für die Gesellschaft ist sein geistiges Wachstum praktisch gesehen ohne Belang. Seine Seele wurde aus dem Betrachtungsfeld völlig verbannt. Beides sind aber gerade Grundlagen eines erfüllten Lebens.

 

Der Mensch, jeder von uns, ist ein Wunder – sein Potenzial ist unbeschränkt. Er kann Sokrates, Shakespeare oder Mutter Teresa werden. Er erzieht Kinder zu Liebe, er erleuchtet die Pfade der Suchenden, er reicht denen die Hand, die Hilfe brauchen. Er kann in seiner Menschlichkeit wachsen, bis er Buddha oder Jesus wird.

 

Ob er dieses Potenzial entfaltet, hängt maßgeblich von seinem gesellschaftlichen Umfeld und dessen Kultur ab. Diese können ihm das Ziel nahelegen, Vorbilder bieten und Wege aufzeigen. Unsere Gesellschaft malt uns heute jedoch Lebensziele und Ideale auf, die uns zur Kleinwüchsigkeit verleiten. Sie preist Spaß, Mühelosigkeit und Bequemlichkeit; sie macht die Befriedigung der Sinne, materiellen Besitz und flüchtigen Ruhm zu erstrebenswerten Zielen. All dies steht im fundamentalen Widerspruch zum wahrhaft humanen Wachstum.

 

Die Ehrfurcht vor dem Wunder des Lebens an sich wäre der Schlüssel zu einem weiteren, unverzichtbaren Frieden: dem Frieden mit der Natur. Der Krieg, den wir gegen das Ökosystem unseres Planeten führen, ist nicht weniger verheerend als die Verbrechen, die Völker und Länder gegeneinander begehen. Reife Spiritualität bewirkt automatisch, dass Gesellschaften im Umgang mit der Umwelt rücksichtsvoller und verantwortungsvoller werden, dass der Raum für Ausbeutung und Gier schrumpft.


Auch für die Beendigung unseres Krieges gegen das lebendige System der Erde müssen wir als Menschheit wachsen. Es wäre hilfreich, wenn der Westen seinen harschen Materialismus durch ein ganzheitliches Verständnis des Menschen und der Natur ersetzte.

Wenden wir uns nun dem dritten Merkmal einer reifen Humanität zu: dem Ethos der Verantwortung für unser humanes Wachstum. Wir haben die Idee, dass der Mensch die Verantwortung für seine moralische und spirituelle Entwicklung, für sein Handeln und Wirken in der Gemeinschaft trägt, zerredet und verwässert. Es gilt, dieses Fundament neu zu errichten. Wertvolle Impulse dafür bieten uns einmal mehr die alten Kulturen Asiens.

 

In der altindischen Kultur gibt es beispielsweise das Konzept des Dharma. Im Kern beschreibt Dharma die Verantwortung des Einzelnen gegenüber dem eigenen Leben, der Familie, der Gemeinschaft, der Gesellschaft sowie der natürlichen Umwelt. Aus dieser Verantwortung erwachsen moralisch richtiges Handeln, Selbstdisziplin und ein tiefes Pflichtbewusstsein. Da wir mit einem freien Willen ausgestattet sind, begründen unsere Entscheidungen zugleich auch Pflichten. Dharma bedeutet, sich dieser Pflichten bewusst zu werden und sie anzuerkennen. Entscheidend ist, dass diese Haltung nicht auf externen Verboten oder Regeln beruht, sondern auf der autonomen Entscheidung des Individuums, ein gutes und fruchtbares Leben führen zu wollen. Aus der Summe dieser individuellen Bestrebungen entstehen ein friedliches und gerechtes Miteinander, eine starke Kultur und letztlich eine reife Humanität. Genau dieses Ethos der Verantwortung – für die eigene Entwicklung und deren Wirkung auf die Gemeinschaft – gilt es, in unserer Kultur wiederzuverankern.


Wir brauchen eine neue, holistische Aufklärung, die jede, auch die reduktionistische, Voreingenommenheit beendet.

Diese Verantwortung bedeutet das Gegenteil der Mühelosigkeit und Oberflächlichkeit. Sie entspringt einem Menschen- und Weltbild, das fundamental anders ist als jenes, das wir unter dem Einfluss eines unkritischen, derben Materialismus und der kapitalistischen Wirtschaftslogik zugelassen haben. Letztlich zielt diese neue Aufklärung darauf ab, ein ausgewogenes Menschenbild zu begründen. Dieses vereint die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften mit der Weisheit fernöstlicher Kulturen und Spiritualität zu einer kohärenten Einheit von Körper, Geist und Seele.

 

Reife Humanität braucht tiefe und starke Wurzeln. Diese müssen in den Unterbau der Kultur reichen: in das spirituelle Universum des Menschen und in die Grundlagen unserer gemeinsamen Menschlichkeit. Das innere Universum des Menschen – die reife, nüchterne und praktische Spiritualität – ist dabei etwas Persönliches, etwas, das jede und jeder für sich entdecken muss. Die Chancen für eine Veränderung hier stehen gar nicht schlecht, weil Yoga, Buddhismus, Advaita Vedanta bei zunehmend vielen Westlern auf Interesse stoßen.

 

Die Grundlagen der Menschlichkeit sind wiederum allen Kulturen in die Wiege gelegt, weil das Mitgefühl, die Freundlichkeit, Tugend, Milde bei allen Völkern der Welt gleich sind. Diese gemeinsame ethische Basis anzuerkennen, wäre an sich keine schwierige Aufgabe. Voraussetzung wäre jedoch, dass die Religionen und die kulturellen Eliten der Welt beginnen, ernsthaft und aufrichtig miteinander zu sprechen und dabei die Gemeinsamkeiten zu betonen.

 

Gleichzeitig müssten politische Machthaber damit aufhören, Spaltung, Hass, Vorurteile und Rassismus als Mittel der Politik zu instrumentalisieren. Diese Transformation wird möglich werden, sobald eine breite Öffentlichkeit der zynischen Selbstsucht herrschender Machteliten überdrüssig ist und den Mut fasst, nach alternativen, partizipativeren Formen des Zusammenlebens zu suchen, die das Modell der heutigen „Parteidemokratie“ überwinden. Denn erst eine solche politische Erneuerung schafft die Voraussetzung für eine faire und respektvolle globale Sicherheitsarchitektur – ein Ziel, das unser aller Engagement unverzichtbar macht.


Der Weg zu einer gesunden menschlichen Gemeinschaft


Auf dem Weg zum Weltfrieden brauchen wir beides: einerseits die Etablierung von verbindlichen Regeln des internationalen Rechts, ergänzt durch Strukturen, die deren Einhaltung wirksam durchsetzen. Andererseits braucht es einen grundlegenden Wandel in unserem Denken, in unserem Selbstverständnis und in unserer Auffassung von menschlicher Gemeinschaft.

 

Wie die Geschichte lehrt, sind Regeln und Strukturen allein nicht genug. Denn das Verhalten jedes komplexen sozialen Systems wird nicht nur von Regeln und Vorschriften gelenkt, sondern ebenso von den Glaubenssätzen und Zielsetzungen seiner Mitglieder. Diese hängen wiederum von der Kultur ab, die ihrerseits im Selbst- und Weltbild der Menschen, in ihrer Auffassung vom Lebensziel gründet. Es ist daher einfach pragmatisch, die Heilung des Krebses von Krieg und Gewalt in einem deutlich breiteren Ansatz zu sehen, als ihn die traditionelle Politik und das Völkerrecht allein bieten können.

 

Die Grundlage für diese Genesung liegt in einem ganzheitlichen Menschenbild, das den Menschen als eine Einheit aus seinen körperlichen, geistigen und spirituellen Bedürfnissen und Ressourcen betrachtet. Erst auf der Basis eines solchen Verständnisses kann die Kultur ihre eigenen Heilungskräfte entfalten und unser Denken und Verhalten nachhaltig wandeln. In einer derart gestärkten Kultur werden sich die Prinzipien des Respekts und der Gewaltlosigkeit auch in den internationalen Beziehungen dauerhaft verankern lassen.


Die Gewaltlosigkeit, der gegenseitige Respekt, der Frieden brauchen tiefe Wurzeln. Den Boden dafür kann nur eine reife Kultur liefern. Die eigentliche Aufgabe der Menschheit heute ist eine kulturelle. Die eigentliche Revolution, die der Menschheit bevorsteht, muss sich im Bewusstsein vollziehen.

Es ist eine Aufgabe für die gesamte Menschheit. Die Nationen der Erde sind räumlich, wirtschaftlich und im Austausch von Ideen bereits zusammengerückt. Nun ist es an der Zeit, auch im Bewusstsein, in den Werten und im Verständnis der gemeinsamen menschlichen Familie zusammenzufinden. Und wie oben aufgeführt, trägt der Westen in diesem Prozess eine besondere moralische und politische Verantwortung.

 

 

Dieser Artikel wirft naturgemäß viele weitere Fragen auf – es ist ein komplexes Thema. Einige dieser Fragen haben wir uns in diesem Blog bereits gestellt. Vielleicht finden Sie folgende Artikel interessant:



Andreas Sternowski ist Verleger im Continentia Verlag, wo er Bücher über den Wandel zur Nachhaltigkeit und Verantwortung publiziert. Seine Vision ist eine Gesellschaft, die auf gerechtem und bereicherndem Miteinander und auf Harmonie mit der Natur beruht.



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