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Zwischen freiem Willen und Karma

Aktualisiert: 12. Juni


Ein Freund, der Hindumönch und Vedantin ist, hat kürzlich in einem Online-Vortrag die Frage gestellt, ob der Mensch, angesichts des Gesetzes des Karmas, den freien Willen hat. Die anschließende Diskussion der Zuhörer (die allesamt Inder waren) hat mich dazu bewegt, ihm einen Brief zu schreiben, den ich hier (übersetzt) offenlegen möchte.


Reihen von Büsten


Wir brauchen wieder Selbstverantwortung und Demut


Du hast nach unserer Meinung gefragt, und die Frage war keine geringe: Hat der Mensch freien Willen oder ist alles durch unser angesammeltes Karma vorbestimmt? Hier ist meine Antwort.

 

Wir vermischen oft zwei Sachen. Das Prarabdha-Karma wie auch unsere Taten und unser Denken in diesem Körper bestimmen unser Leben, das, was uns widerfährt, aber nicht, wie wir darauf reagieren. Jede und jeder hat in jedem Augenblick die Freiheit, zu entscheiden, was sie denkt und oft genug auch, was er tut. Ohne den freien Willen wäre die Welt ein Automat. Das ist Gottes Schöpfung nicht.

 

Unsere Samskaras üben auf uns eine starke Kraft aus, und es ist nicht einfach, sich dieser Kraft entgegenzustellen. Weil es nicht einfach ist, setzen wir die Gegenkraft, die notwendig wäre, um anders zu denken und zu handeln, oft nicht ein. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir es nicht können. Der Grund dafür ist unsere Schwäche. Auf dem Weg, der den Menschen zur Vollkommenheit führt, kommt man jedoch nur gegen diese Schwäche voran. Und es gibt keinen anderen Weg, wenn wir in unserer Menschlichkeit wachsen wollen.

 

Ohne freien Willen gibt es nicht nur keine Sadhana, sondern auch keinen Dharma. Ohne Sadhana gäbe es keinen Yoga und keinen Vedanta. Und ohne Dharma gäbe es keinen Hinduismus. Meine indischen Freunde, Ihr dürft euch vom westlichen Denken nicht verunsichern lassen. Der Mensch hat den freien Willen, sich zu jedem Zeitpunkt dem Richtigen, dem Guten, der Wahrheit zuzuwenden – zumindest in seinem Herzen. Ich betrachte die Relativierung dieser Selbstverantwortung des Menschen durch Sigmund Freud als eins der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die die westliche Kultur begangen hat. Wir brauchen dringend Alternativen zu dieser Hypothese, und der Vedanta ist eine wichtige Alternative – für mich die mächtigste überhaupt.

 

Es gibt also keinen Widerspruch zwischen dem Gesetz des Karmas und dem freien Willen. Wir werden die Früchte unseres Handelns, Denkens und Wollens ernten. Es ist mir nicht bekannt, dass dieses Gesetz innerhalb des hinduistischen Weltbildes außer Kraft gesetzt werden kann. Sogar in den Haupt-Puranas nicht, die ja Erzählungen, Literatur sind und deswegen für solche Ausnahmen prädestiniert wären. Von der anderen Seite ist Bhagavad Gita eine Abwägung, eine Argumentation, die eine freie Entscheidung vorbereiten soll. „Nachdem du darüber gründlich nachgedacht hast, tu, was du willst“, sagt Krishna zum Schluss zu Arjuna. Deswegen erlaube ich mir die Aussage, dass der Vedanta und das Beste im Hinduismus ohne Selbstverantwortung des Menschen, also ohne freien Willen, zusammenfällt.


Die fundamentalen Fehler der westlichen Kultur

 

Nun habe ich von einem der Verbrechen gegen die Menschlichkeit der neuzeitigen westlichen Kultur gesprochen. Gibt es also mehrere? Lass mich, lieber Freund, zum Schluss auch diese Frage beantworten: Ja, leider.

 

Das eine ist der Hochmut, unsere Überheblichkeit gegenüber den anderen Kulturen und Menschen, die zu Herablassung, zu ihrer systematischen Ausnutzung und Unterdrückung führten, wie der Kolonialismus und die wirtschaftliche Ausbeutung seit Christoph Kolumbus es schmerzlich illustrieren. Denselben Hochmut haben wir der Natur, Gottes Schöpfung auf diesem Planeten, entgegengebracht, was heute zu ihrer endgültigen Zerstörung führt.

 

Das dritte Hauptverbrechen gegen die Menschlichkeit der neuzeitigen westlichen Kultur ist, dass wir die Selbstsucht und Gier zu etwas Gutem erhoben und sie zum Kern der Wirtschaft und dadurch zum Nukleus unserer Zivilisation gemacht haben. Dadurch haben wir eine Welt geschaffen, deren Dynamiken diese schlechtesten der menschlichen Eigenschaften immer weiter verstärken. Das führt heute sogar zur Zersetzung unserer westlichen Kultur und Gesellschaft und droht, die ganze Welt in unkontrollierte Gewalt und Vernichtung zu stürzen.

 

Die Selbstverantwortung des Individuums, Demut und Genügsamkeit, Dharma sind die Grundsteine eurer Kultur. Bitte relativiert sie nicht. Gebt sie uns Westlern, die nach Hoffnung dürsten, stattdessen als ein Geschenk. Es gibt kein größeres Geschenk, das eine Kultur einer anderen machen kann.


Die fundamentalen Fehler der westlichen Kultur sind:

  • Hochmut und Überheblichkeit

  • Selbstsucht und Gier als Kern unserer Zivilisation

  • Relativierung der Selbstverantwortung des Menschen durch Psychologie



Andreas Sternowski ist Verleger im Continentia Verlag, wo er Bücher über den Wandel zur Nachhaltigkeit und Verantwortung publiziert. Seine Vision ist eine Gesellschaft, die auf gerechtem und bereicherndem Miteinander und auf Harmonie mit der Natur beruht.


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